Ergreifende Autobiographie aus Neuseeland
Hannah Gi | Posted 16/10/2012 | Autoren, Belletristik, Biografien, Sachbuch | Keine Kommentare »„Ich lief ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und erbrach mich abermals. Mrs. T., die das Wochenende bei Kathleen verbracht hatte und seit etwa zwei Stunden zu Hause war, öffnete ihre Schlafzimmertür. ‚Ist alles in Ordnung?‘ fragte sie. ‚O ja‘, rief ich. ‚Alles bestens. ‚Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir.‘ (Kein Problem, überhaupt kein Problem.“
„Kein Problem, überhaupt kein Problem“ ist das Mantra der jungen Janet Frame, die in ihrer Autobiographie „ein Engel an meiner Tafel“ beschreibt, wie ihr angepasstes, zurückhaltendes Leben völlig aus den Fugen gerät, als sie den Anforderungen an eine Lehrerinnen-Ausbildung nicht standhält. Sie lässt bei der Abschlussprüfung den Prüfer einfach stehen: „Ich wartete. Dann sagte ich zum Inspektor: ‚Würden Sie mich bitte entschuldigen?‘ ‚Aber natürlich, Miss Frame.‘ Ich ging aus dem Zimmer und aus der Schule und wusste, dass ich nie mehr zurückkehren würde.“
Bis dahin hat sie, einer ärmlichen Kindheit und diversen Schicksalsschlägen zum Trotz, funktioniert, sogar ein Studium fern von zu Hause aufgenommen. Nun kommt sie in ihrer Einsamkeit und Verzweiflung zu dem Schluss, „dass Selbstmord der einzige Ausweg war.“ Allerdings bewirkt die Überdosis Aspirin die sie einnimmt nur, dass sie mit starken Kopfschmerzen, Nasenbluten und von Übelkeit geplagt wieder zu sich kommt. Doch froh, überlebt zu haben beschreibt sie, stolz über ihren Mut, ihren Selbstmordversuch in einer Seminararbeit – mit der Konsequenz, dass ihr Tutor ihre Einweisung in ein Krankenhaus veranlasst. Von da aus gerät sie nach einer Fehldiagnose immer weiter in die Mühlen der Psychiatrie, bis – nach acht Jahren in einer geschlossenen Anstalt – an ihr wegen unheilbarer Schizophrenie eine Lobotomie vorgenommen werden soll – bis in die Mitte der 50er Jahre noch ein probates Mittel, schwierige psychiatrische Fälle ruhigzustellen. Gerettet wird sie auf Grund eines Literaturpreises, den sie für eines ihrer früheren Werke erhalten soll. Die Literatur bestimmt auch in Zukunft ihr Leben und ist ihr Rettungsanker vor der Welt.
„Ein Engel an meiner Tafel“ ist eine wunderbare, beunruhigende (Wieder-) Entdeckung und hat mich so gefesselt, dass ich mir die beiden anderen bei Beck erschienen Bände dieser Autobiographie gleich im Anschluss an die Lektüre besorgt habe.
Janet Frame wurde 1924 als drittes von fünf Kindern eines Eisenbahnarbeiters in Dunedin, Neuseeland, geboren, wo sie 2004 auch starb. Die Familienverhältnisse waren zum Teil tragisch, sie selbst wurde zu Unrecht als Schizophrene über Jahre in Nervenheilanstalten behandelt, u. a. mit Elektroschocks. Frame ist Autorin von zwölf Romanen, darunter „Gesichter im Wasser“, sowie fünf Erzählungsbänden, darunter „Die Lagune“. Sie veröffentlichte Gedichte und ein Kinderbuch. Ihre Autobiographie „Ein Engel an meiner Tafel“, die von Jane Campion verfilmt wurde, gehört zu den bedeutendsten Beispielen für dieses Genre im 20. Jahrhundert. Janet Frame zählte zu den Anwärterinnen für den Literaturnobelpreis.