Rückkehr nach Mittwelt
Books | Posted 21/10/2012 | Belletristik, Orell Füssli | Keine Kommentare »Stephen Kings aussergewöhnlicher Zyklus um den «Dunklen Turm» ist eigentlich abgeschlossen. Trotzdem erscheint dieser Tage mit «Wind» noch ein weiterer Teil der Mittwelt-Saga – er schliesst Erzähllücken…
Text: Erik Brühlmann
Stephen King ist Millionen von Leserinnen und Lesern in aller Welt vor allem als Meister des manchmal mehr, manchmal weniger subtilen Horrors bekannt. Er selber bezeichnet aber den Zyklus um den «Dunklen Turm» als sein Opus Magnum. 2004 erschien mit «Der Turm» der siebte und vermeintlich letzte Teil. Mit «Wind» legt Stephen King jetzt aber noch einmal eine Endzeit-Schippe drauf. Oder vielmehr dazwischen.
Ein Buch für zwischendurch
Es ist schon lange verbreitet, dass zu erfolgreichen Serien auch noch Prequels erscheinen – das sind Folgen, die vor der Originalgeschichte spielen, also das Gegenteil von Fortsetzungen. «Wind» ist aber weder Fortsetzung noch Prequel, sondern ein Roman, der zwischen dem vierten und dem fünften Teil der Saga spielt. Sozusagen ein Interquel, oder wie King es nennt: «Der dunkle Turm 4.5». Doch keine Angst: Man muss die Originalserie nicht kennen, um «Wind» zu verstehen; leichter fällt einem das Leseabenteuer mit ein wenig Hintergrundwissen allerdings schon.
Tolkien und Sergio Leone
Anders als die meisten Romane von King ist der «Turm»-Zyklus nicht in der Realität angesiedelt, sondern in einer endzeitlichen Welt namens Mittwelt. Revolvermänner sind das Gesetz – oder vielmehr das, was vom Gesetz noch übrig geblieben ist. Magische Wesen sind ebenso alltäglich wie Überreste technologischer Gerätschaften. Das klingt wie eine Mischung aus Western, Fantasy und Steampunk, und genau das ist es auch. Stephen King nennt als hauptsächliche Inspirationsquellen Robert Brownings Gedicht «Childe Roland to the Dark Tower Came», «Der Herr der Ringe» und Sergio Leones Spaghettiwestern. Roland ist denn auch der Name des Hauptprotagonisten, eines ebenso rätselhaften wie ritterlichen Revolvermanns, der mit einer Gruppe New Yorker und dem hundeähnlichen Wesen Oy den sagenumwobenen dunklen Turm sucht und ihn in «Der Turm» auch findet.
Ein Loch wird gestopft
Weshalb, so mag man sich nun fragen, schreibt Stephen King noch einen Roman für einen abgeschlossenen Zyklus? «Ich merkte, dass es in der Erzählung mindestens ein Loch gibt», begründet der Meister seine Motivation. «Mit der Zeit entstand in meinem Kopf eine Geschichte. Ich sah einen abgetrennten Kopf auf einem Zaunpfahl. Ich sah einen Sumpf voller Gefahren und Terror. Ich sah genug, dass ich auch den Rest der Geschichte sehen wollte.»
Drei in eins
Dieser Rest der Geschichte ist «Wind» – und kein Roman im eigentlichen Sinn. Vielmehr handelt es sich um eine Kurzgeschichte in einer Kurzgeschichte, die in die Rahmenhandlung des dunklen Turms eingebettet ist. Während eines heftigen Sturms verschanzen sich Roland Deschain und seine Gefährten in einem verlassenen Haus. Roland nutzt die untätige Zeit, um eine Geschichte aus seiner Jugend zu erzählen: Auf der Jagd nach einem grausamen Mörder, der allem Anschein nach ein Gestaltwandler ist, findet Roland nur einen einzigen Zeugen – einen kleinen Jungen, der nun seines Lebens nicht mehr sicher ist. Er nimmt den Jungen in Schutzhaft. Im Gefängnis erzählt er ihm die zweite Geschichte des Buchs: die Erlebnisse des jungen Tim, der nichts unversucht lässt, um sich an seinem prügelnden Stiefvater zu rächen und seiner Mutter das Augenlicht wiederzuschenken.
Es gibt noch viel zu wissen
Je länger eine Serie andauert, desto mehr muss sich ein Schriftsteller die Frage gefallen lassen: Musste das sein? Bei «Wind» lautet die Antwort: Es musste nicht, aber es darf sein. Denn die Geschichten sind ebenso spannend wie haarsträubend, manchmal brutal und blutig, manchmal schon fast märchenhaft und fantastisch. King zieht alle Register seiner Erzählkunst und wird mit «Wind» keinen Fan des dunklen Turms enttäuschen. Andererseits ist «Wind» aber eben auch nur ein Lückenfüller, der den abgeschlossenen Zyklus natürlich nicht mehr weiterentwickeln kann. Aber der «Turm»-Zyklus ist halt Stephen Kings Lieblingswerk, und so ist anzunehmen, dass «Wind» nicht das letzte Interquel bleiben wird. Oder wie der Meister es formuliert: «Es gibt so vieles in der Vergangenheit und Gegenwart von Mittwelt, über das wir bisher noch nichts wissen. ‹Wind› wird zwar niemandes Leben verändern. Aber ich hatte Spass dabei!»