So schreibe ich
Books | Posted 28/10/2012 | Autoren, Belletristik | Keine Kommentare »Schweizer Autorinnen und Autoren erzählen in «Books», wie sie schreiben. Heute: Sibylle Berg…
Schriftstellerinnen und Schriftsteller werden immer wieder nach dem Geheimnis ihrer Kreativität, nach den Regeln der Selbstdisziplinierung befragt – vermutlich deshalb, weil sich keiner vorstellen kann, dass Bücher oder Theaterstücke zu verfassen dermassen langweilig sein kann, wie es nach den zaghaften Auskünften der Autorinnen und Autoren scheint. Da muss doch noch ein Geheimnis sein, etwas Funkelndes, Verbotenes, das mit Rauschmitteln zu tun hat oder mit abgedunkelten Speicherräumen. Ist aber nicht. Da ist nichts.
Die These des Wissenschaftlers Dr. K. Anders Ericsson lautet: «Menschen benötigen 10’000 Übungsstunden, um aussergewöhnliche Fähigkeiten zu entwickeln.» Ich brauchte zehn Jahre, ungefähr, um das Schreiben zu lernen. Über das Kopieren und Verwerfen, Lesen und Verzweifeln zu einem Stil zu finden, der mich im Ausdruck meiner Gedanken und Thesen nicht behindert. Danach konnte ich es, danach zweifelte ich nicht mehr. Oder weniger. Jedes fertige Buch ist ein gescheiterter Versuch – aber wenigstens einer auf einem sauberen Niveau. Nach zehn Jahren Übung, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, begann ich, mit dem Verfassen von Büchern, Essays und Theaterstücken meinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Ich schreibe meist im Wechsel: alle zwei Jahre ein Buch, danach zwei Theaterstücke, dazwischen Aufsätze für Zeitungen, Reiseberichte, Kriegsreportagen – alles, was anfällt, wird erledigt. Ich stehe jeden Morgen gegen sieben Uhr auf, frühstücke und schreibe bis zum Mittag. Dann erledige ich Anfragen, Kolumnen, leichtere Texte, am späten Nachmittag geht es weiter mit dem Buch oder dem Stück. Die Ideen dazu sammle ich vorher über Monate, in denen ich versuche, das, was mich oder die Welt gerade beschäftigt, in eine Theorie oder in eine Überschrift zu pressen. Diese steht dann über dem Text. Bei Büchern und Stücken bin ich mir über die zu erzeugende Stimmung klar, über den Anfang und das Ende. Dazwischen führe ich textliche Untersuchungen durch zur Lage, die ich begreifen will. Die ich aber auch am Ende nie begreife. Die grosse Überschrift über den kleinen Überschriften ist immer: Wie halten Menschen ihr Leben aus? Wie ertragen sie es in möglichst angenehmer Art, um ihren Tod zu wissen und dennoch weiterzumachen?
Erste Sätze sind völlig überbewertet. Ich habe keine Angst vor ihnen, denn man kann schlechte Sätze einfach löschen und durch gute ersetzen. Angst habe ich nur vor dem Danach. Vor der Vermarktung der Arbeit, ohne die es heute nicht mehr geht; ohne die nichts mehr geht. Sie beinhaltet, dass ich missverstanden werde, weil ich nicht klar genug war. Missverstanden – und dann denke ich immer darüber nach, was dieses Wort meint, welchen Grössenwahn es einschliesst, und mir wird es furchtbar peinlich. Die Überschrift «erforschen, wie man das Leben aushält» verdrängt, dass alles, was man tut, nicht viel bedeutet. Ausser man ist Mediziner, Forscher, Gandhi. Ich weiss, dass das, was ich schreibe, nichts ändert – und dann lande ich schon wieder im Grössenwahn und bin mir peinlich.
All das passiert erst nach der Fertigstellung eines Buchs. Während ich am Buch schreibe, ist alles gut. Ich will alles einfach nur gut machen, so gut es gerade geht, und schreibe vom Morgen an und mache mittags eine Pause, und das war es auch schon mit dem aufregenden Schriftstellerinnenleben. Mehr ist da nicht. Vermutlich geht es jedem, der arbeitet, nicht anders. Man glaubt an sich, man zweifelt an sich, man findet sich lächerlich und das zu
Recht. Das Gute daran ist einzig, dass ich mein Leben zu Hause verbringen kann, ohne einen Vorgesetzten, ohne Kollegen, die vielleicht aus irgendwelchen Gründen schlecht gelaunt sind. Ein unglaublich gutes Leben habe ich, auch wenn ich weiss, dass es bald endet.