Alles bleibt anders
Books | Posted 28/11/2012 | Belletristik, Orell Füssli | Keine Kommentare »Darauf haben die Fans gewartet: John Irvings neuer Roman «In einer Person» steht endlich in den Regalen – und er ist ein Irving in Reinkultur…
Text: Erik Brühlmann
Wo John Irving drauf steht, ist auch John Irving drin. Daran ändert sich auch bei seinem dreizehnten Roman «In einer Person», nichts. Mit anderen Worten: Wer schon den einen oder anderen Irving-Roman gelesen hat – vielleicht «Gottes Werk und Teufels Beitrag» oder «Garp und wie er die Welt sah» –, wird so manches Aha-Erlebnis haben. Als typische Irving-Ingredienzie zu erwähnen wäre zum Beispiel das fiktive Städtchen First Sister, das der Autor in Vermont, New England, verortet; da wäre der Erzähler William «Billy» Abbott, ein Schriftsteller, dessen leiblicher Vater in frühester Kindheit verschwand; da wäre der Ringsport, der in der einen oder anderen Form immer wieder auftaucht; da wäre ein Auslandaufenthalt in Wien; und da wären – natürlich – unzählige Figuren, die von der sexuellen Norm abweichen. «Mich faszinieren sexuelle Aussenseiter nun mal besonders», verriet der 70-jährige Schriftsteller in einem Interview. «Ich mag diese Leute; sie ziehen mich an, und ich sorge mich um ihre Sicherheit – darum, wer sie hassen und ihnen Schaden zufügen könnte.»
Zwei Geschlechter in einem
Doch John Irving wäre nicht John Irving, wenn er aus den bekannten Zutaten nicht ein üppiges, wohlschmeckendes Menü zaubern könnte. Die sexuelle Andersartigkeit ist diesmal sogar das Hauptthema des Romans – denn Billy Abbott ist bisexuell. Schon von frühester Kindheit an spürt er, dass er sowohl vom weiblichen als auch vom männlichen Geschlecht angezogen wird und ihn ein weiblicher BH stärker erregen kann als ein weiblicher Körper. Diese Veranlagung scheint bis zu einem gewissen Grad in der Familie, ja sogar im Städtchen First Sister zu liegen: Billys Grossvater übernimmt im örtlichen Laientheater mit Vorliebe und sehr überzeugend Frauenrollen, und die gestrenge, aber äusserst anziehende Bibliothekarin Miss Alberta Frost wurde eigentlich als Albert Frost geboren und war zu ihrer/seiner Zeit ein Ringer-Star. Miss Frost ist es denn auch, die Billy ins bisexuelle Leben einführt.
Alles nur ein (Schau-)spiel
«Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Frauen und Männer blosse Spieler», heisst es in William Shakespeares «Wie es euch gefällt». Und in der Tat nimmt die Schauspielerei im Roman von Irving einen grossen Teil ein. Kein Zufall, sagt doch der Schriftsteller: «Mein frühestes Interesse am Geschichtenerzählen rührt vom Theater her.» Dies beginnt schon beim Originaltitel «In One Person», eine Anspielung auf Shakespeares «Richard II.», geht weiter über die Laienschauspieltruppe, der Billys Mutter, Grossvater, Stiefvater und noch viele Charaktere mehr angehören, und mündet in die Schauspielkunst, die ein Bisexueller an den Tag legen muss, um im prüden Amerika der 1950er- und 1960er-Jahre seinen Weg gehen zu können.
Zwischen Witz und Realität
Die Spieler auf Irvings Bühne sind Charaktere, an die man sich gern erinnert. Schrullige, spiessige, schillernde Personen, die der Autor auf über 700 Seiten gewohnt detail- und facettenreich zeichnet, zuweilen auch überzeichnet. Denn «In einer Person» will weder ein Thesen- noch ein Aufklärungsroman sein, sondern ein Buch, das man gern liest und das trotzdem eine Haltung vertritt. Ein Buch, das auch stilistisch mit Extremen spielt. Die humorig-unschuldige Art, wie Irving Billys wachsende Lust oder sein zündendes Erlebnis mit Miss Frost beschreibt, ist ebenso stilsicher platziert wie die schonungslose Brutalität, mit der die Krankheit AIDS dargestellt wird, die in den 1980er-Jahren viele von Billys Freunden, Bekannten und Ex-Liebhabern dahinrafft. «In einer Person» ist eine Tragikomödie im besten Wortsinn – und ein Roman, der seinen Schöpfer während der Recherche zuweilen viel Kraft gekostet hat: «Ich habe von 1981 bis 1986 in New York gelebt, war zu Beginn der AIDS-Krise da, habe junge und alte Freunde an die Seuche verloren. Bei manchen dieser Erinnerungen hätte ich mir gewünscht, sie nie wieder hervorkramen zu müssen.»
dicht, Dichter – Irving
Extrem ist auch, wie John Irving die Wahrscheinlichkeit seinem Ziel, einen grossen Roman über die sexuelle und die gesellschaftliche Toleranz zu schreiben, zuweilen unterordnet. «Erstaunlich, wie viele männliche und weibliche Transsexuelle Billy in seiner Kleinstadt-Jugend gekannt hat!», moniert jemand zum Beispiel in einem Bücherforum. Und es stimmt. Dass so viele Menschen in Billys Umfeld beide Geschlechter auf die eine oder andere Weise in einer Person vereinen, ist in der Tat äusserst unwahrscheinlich. Doch ist es nicht auch ein Merkmal des Theaters, dass auf dem begrenzten Raum, den eine Bühne darstellt, alles verdichtet und konzentriert dargestellt werden muss, um die Aussage der Geschichte transportieren zu können? Hier zeigt sich wieder einmal Irvings Verbindung zum Theater, die ihn auch als Schriftsteller nie losgelassen hat: «Bevor ich alt genug war, die Romane von Dickens, Melville, Hawthorne und anderen schätzen zu lernen, habe ich Shakespeare- und Sophokles-Aufführungen gesehen; Stücke mit viel Handlung. Jahrhunderte bevor die ersten Romane geschrieben wurden, hat das Theater Geschichten erzählt.»
Ein sicherer Lesetipp
In der englischsprachigen Welt erschien «In One Person» bereits zu Beginn des Jahres und begeisterte die Kritiker. «Grosse, unterhaltsame Lektüre» sei das, urteilte der englische «Telegraph», «schwer zu kategorisieren, aber leicht zu mögen» schrieb der «Independent» über den Roman. Auch im deutschen Sprachraum wird «In einer Person» mit Sicherheit viele zufriedene Leserinnen und Leser finden. Denn das Buch tut alles, um die alten Fans zu befriedigen, und ist gleichzeitig interessant genug, um neue Fans zu gewinnen – alles in einem Roman, sozusagen.