Die hohe Kunst der Grenzgänge

Books | Posted 03/01/2013 | Belletristik, Orell Füssli | Keine Kommentare »

Sofi Oksanen ist nicht bekannt für sanftmütige Kuschelgeschichten. Ihr Roman «Fegefeuer» faszinierte und schockierte das Publikum gleichermassen. Ganz ähnliche Reaktionen dürfte ihr Roman «Stalins Kühe» auslösen…

Text: Erik Brühlmann Foto: Toni Härkönen

Mit ihrem Roman «Fegefeuer» – das erste ihrer Werke, das auf Deutsch übersetzt wurde – gelang der finnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen der grosse Wurf. Kritiker und Publikum waren gleichermassen begeistert ob der ebenso harten wie einfühlsamen Geschichte dreier Frauen. In Finnland wurde das Buch als Roman des Jahrzehnts gefeiert und mit Auszeichnungen überhäuft: «Fegefeuer» ist das einzige Werk, das in Finnland sowohl den Finlandia- als auch den Runeberg-Preis erhielt. Und Sofi Oksanen ist die jüngste Autorin, die je einen dieser Preise verliehen bekommen hat. Auch im Ausland erhielt die Autorin Anerkennungen zu Hauf – zum Beispiel in Frankreich den Prix Femina Etranger und den Prix du Roman Fnac. Nun ist mit «Stalins Kühe» die längst fällige Übersetzung von Oksanens Erstlingswerk aus dem Jahr 2003 erschienen.

Eine Welt voller Grenzen
Laut Wikipedia handelt «Stalins Kühe» von «Estland in den sowjetischen Zeiten, von Immigranten und von Essstörungen». Das stimmt zwar, greift aber viel zu kurz. Treffender wäre es, den Roman als eine szenische Erforschung der Grenzgängerei auf unzähligen Ebenen zu beschreiben: zwischen Ost und West, zwischen Finnland und Estland, zwischen Vorurteilen und Realität, zwischen innerer Gefühlswelt und der Maske nach aussen, zwischen dem Selbstbetrug, die Bulimie zu kontrollieren, und dem Wissen, dass die Bulimie längst die Kontrolle an sich gerissen hat.

Se non è vero …
Wie schon bei «Fegefeuer» bedient sich Sofi Oksanen des Mittels der Autofiktion. Viele Elemente in «Stalins Kühe» entstammen – zumindest augenscheinlich – den Erfahrungen der Autorin. Andere wiederum sind frei erfunden. Welche Elemente zu welcher Gruppe gehören, ist kaum zu erkennen. So ist beispielsweise Anna, die Protagonistin, genau wie Oksanen eine junge Frau mit estnischer Mutter und finnischem Vater. Wie ihre Schöpferin pendelt Anna zwischen dem Leben in Finnland und Estland hin und her und tut sich schwer, mit dieser Situation klar zu kommen. In ihrem Mutterland ist Anna eine Ausländerin, in ihrem Geburtsland eine «Russin». Mutter Katariina verbietet Anna, in Finnland Estnisch zu sprechen und sich mit Nicht-Finnen anzufreunden. Schliesslich weiss man nie, ob es sich bei ihnen nicht um Spione handelt. Anna wächst auf in einer Atmosphäre von Einschränkungen und Haltlosigkeit – bis sie schliesslich etwas findet, woran sie sich klammern und das sie scheinbar selbst kontrollieren kann: ihre Nahrungsaufnahme. Anna wird zur Bulimikerin und die Bulimie zu einem Anker, den sie sich von niemandem nehmen lässt. Nicht einmal von ihrem Freund.

Ein Zeitenmosaik
«Stalins Kühe» ist jedoch nicht allein ein Bulimie-Roman. Auf insgesamt vier ineinander verwobenen Zeitebenen wird Annas Familiengeschichte beschrieben – und damit ein Stück Nachkriegshistorie, das Mitteleuropäern in der Regel gänzlich unbekannt ist. Auf der ersten Ebene geht es um Annas Grosseltern und die Zeit, in der Nachkriegs-Estland stalinisiert und russifiziert wurde. Die zweite Ebene, die Ge- schichte von Annas Mutter Katariina, spielt in den 1970er-Jahren – zu Zeiten des Eisernen Vorhangs und sowjetischer Allmacht. Annas Jugend, die dritte Ebene, erzählt vom Misstrauen der Finnen gegenüber eingewanderten Esten, aber auch vom Misstrauen der Einwanderer gegenüber jedem, der ihnen gegenüber allzu persönlich wird. Schliesslich zeigt die vierte Ebene Annas Alltag, der geprägt ist von Fressorgien mit anschliessendem Erbrechen, vom Kalorienzählen und davon, die Umwelt von alledem nichts merken zu lassen…

Das Tempo fest im Griff
Sofi Oksanen versteht es meisterlich, die Lesenden bei der Hand zu nehmen und durch das mosaikartige Geflecht von Szenen zu führen, die manchmal einige Seiten, manchmal nur wenige Sätze lang sind. Der Faden geht dabei nie verloren; im Gegenteil, er verdickt sich mit jedem Kapitel zu einem veritablen Seil, an dem man sich durch die Erzählung hangeln kann – wohl eine Folge von Oksanens dramaturgischer Ausbildung an der Theaterhochschule in Helsinki. Geradezu gnadenlos erweist sich die Schriftstellerin bei der Kontrolle des Erzähltempos. Ruhige, beobachtende Passagen wechseln sich ab mit getriebenen, atemlosen Gedankengängen…

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Titel:
Stalins Kühe: Roman

ISBN-13:
9783462043747

Autor:
Sofi Oksanen

Verlag:
Kiepenheuer&Witsch

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