Die Debatte
Books | Posted 02/02/2013 | Belletristik, Orell Füssli | Keine Kommentare »Was machen eine Buchhändlerin und ein Buchhändler in der Kaffeepause? Sie plaudern über Bücher. Books hat sich im «Starbucks» der Filiale Kramhof zu den Orell-Füssli-Mitarbeitenden Patrizia Melaugh und Ernst Schipper gesetzt…
von Marius Leutenegger
Books: «Snowdrops» von A.D. Miller war letztes Jahr ein Kritikerliebling im englischsprachigen Raum. Das Erstlingswerk von A. D. Miller, der jahrelang Moskau-Korrespondent für den «Economist» war, schaffte es gar auf die Shortlist für den Booker-Preis. Jetzt liegt das Buch auch auf Deutsch vor – als «Die eiskalte Jahreszeit der Liebe». Worum geht’s?
Patrizia Melaugh (PM): A.D. Miller schöpft aus seinem Erfahrungsschatz – das Buch spielt in Moskau. Ein englischer Anwalt lebt schon seit ein paar Jahren in der russischen Hauptstadt. In der U-Bahn lernt er zwei junge Frauen kennen; er verliebt sich heftig in eine von ihnen und trifft die beiden fortan regelmässig. Die Frauen stellen ihn dann einer alten Tante vor, die in einer grossen Wohnung im Zentrum von Moskau lebt, und sie bitten ihn, sie bei einem Geschäft zu unterstützen: Die Tante soll die grosse Wohnung verkaufen und in eine kleinere ziehen. Man merkt allmählich, dass bei dieser Sache etwas nicht stimmt. Und der Anwalt hat später auch Gewissensbisse wegen seiner Beteiligung an diesem dubiosen Geschäft. Das Buch ist nämlich als eine Art Geständnis verfasst: Jahre später schreibt der Anwalt seine Erlebnisse für seine Verlobte auf. Sie hat wissen wollen, warum er so wenig von seiner Zeit in Moskau erzählt.
Ernst Schipper (ES): Gewissensbisse hat er aber nicht unbedingt; er hat die Angelegenheit einfach verdrängt, aber im Nachhinein versucht er sie zu rechtfertigen. Er wollte offenbar einfach nicht merken, dass es um einen Riesenbetrug geht – aber er hätte es schon merken können.
Books: Aufgrund des Titels hatte ich eigentlich gedacht, es handle sich um einen Liebesroman … welche Rolle spielt denn die Liebe?
ES: Ich finde, der deutsche Titel passt nicht. Der englische Titel «Snowdrops» – «Schneeglöckchen» – ist jedenfalls viel besser. Denn damit werden in Moskau jene Obdachlosen bezeichnet, die im Winter erfrieren und im Frühling vom Schnee freigegeben werden.
Books: Warum passt das besser?
PM: Weil die Kontraste des Lebens in Moskau ein zentrales Thema des Buchs sind. Das Schneeglöckchen ist doch etwas so Schönes, Zartes – und steht dann auch für aufgetaute Leichen. Das Buch stellt die Kontraste des Moskauer Lebens wunderbar dar, das Nebeneinander von arm und reich, die Hässlichkeit und Schönheit der Stadt, die extreme Kälte draussen und die überheizten Wohnungen im Winter.
ES: Man spürt, dass der Autor Russland sehr gut kennt. Er schält wunderbare Details aus dem russischen Alltagsleben heraus und zeigt die ganze Dekadenz und Verderbtheit dieser Gesellschaft – und das in einer sehr bildhaften Sprache.
PM: Was das Buch so gut macht, ist diese Sprache. Der Roman liest sich unglaublich flüssig. Spannend sind auch die moralischen Fragen, die er auswirft, spannend ist, ob der Anwalt endlich merkt, was da gespielt wird – und wann er die Grenze vom Opfer zum Täter überschreitet.
ES: Er ist verblendet – und läuft sehenden Auges in die Sache hinein. Menschen wollen nun einmal getäuscht werden. «Je weniger man weiss, desto besser schläft man», heisst es einmal. Mit solchen Sätzen beschreibt Miller die russische Seele in kürzester Form. Man könnte dem Buch vorwerfen, dass es ein klischiertes Russlandbild zeichnet, aber es ist trotzdem spannend zu lesen – und man vertraut dem Autor, dass er schon weiss, wie es ist. Er wirft ein grelles Licht auf diese Gesellschaft, in der es immer nur schwarz und weiss gibt: arm oder reich, dekadent oder gewissenhaft. Und Miller trifft auch die russische Melancholie sehr gut.
PM: Das Buch wirkt auch deshalb etwas melancholisch, weil die Geschichte im Rückblick erzählt wird – man spürt, dass der Anwalt die Intensität seiner Moskauer Jahre vermisst. Für mich ist das jedenfalls eines der besten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe.