Die Debatte II
Books | Posted 03/02/2013 | Belletristik, Orell Füssli | Keine Kommentare »
Was machen eine Buchhändlerin und ein Buchhändler in der Kaffeepause? Sie plaudern über Bücher. Books hat sich im «Starbucks» der Filiale Kramhof zu den Orell-Füssli-Mitarbeitenden Patrizia Melaugh und Ernst Schipper gesetzt…
aufgezeichnet von Marius Leutenegger
Ernst ist begeistert von jenem Buch, das er für diese Runde ausgewählt hat: «Verteidigung der Missionarsstellung» von Wolf Haas. Ein ungewöhnlicher Titel, der nichts über den Inhalt verrät.
Ernst Schipper (ES): Ja, und dieser Inhalt lässt sich auch kaum zusammenzufassen – zumal es eigentlich gar nicht viel Handlung gibt. Die Rahmengeschichte handelt von einem Mann, der sich zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten immer wieder verliebt – und dann jedesmal an der gerade aktuellen Seuche erkrankt. Die Geschichte beginnt 1988 in London; dort isst er, obwohl Vegetarier, einen Hamburger, weil er sich in die Hamburger-Verkäuferin verliebt hat – und er erkrankt an Rinderwahnsinn. Den gleichen Mann sehen wir 2006 in China, als gerade die Vogelgrippe grassiert. Er verliebt sich erneut und wird wieder krank. 2009 zählt er in Santa Fe zu den ersten Opfern der Schweinegrippe, natürlich hat er sich auch jetzt wieder verliebt. Und am Schluss holt er sich noch die EHEC-Mikroben in Deutschland. Das ist, kurz zusammengefasst, die Handlung. Aber das Buch lebt nicht von seinem Inhalt, sondern von einem extremen Sprachwitz. Wolf Haas ist einer, der immer an die Grenze geht und sehr gern mit Formen und Sprache experimentiert.
Das heisst?
ES: Seine Ausgangshypothese ist sprachtheoretisch. Es heisst ja, Sprache bestimme unser Denken, Haas ergänzt: Das Sprachbild bestimmt unser Denken. Das heisst, dass er wie einst die Vertreter der konkreten Poesie mit seinem Text im eigentlichen Sinn Bilder im Buch entwirft. Fahren die Protagonisten Lift, macht das auch der Text: Er hat die Form einer Liftkabine und beginnt auf jeder Seite etwas weiter unten. Geht es ums Querlesen, erscheint der Text seitenlang quer. Spielt die Geschichte in China, erscheinen über dreieinhalb Seiten lang nur chinesische Schriftzeichen. Oder manchmal wird die Seitenzahl mit einem Wort vertauscht. Alles ist einfach sehr spielerisch und anregend. Besonders schön finde ich die Idee, dass Haas auslässt, was er überflüssig findet – Beschreibungen zum Beispiel, die in anderen Büchern Seiten füllen. Bei ihm heisst es schlicht: London 1988 Leute & Frisuren & Sachen, den Rest muss man sich selber denken. Das Buch quillt über von solchen Ideen. Klar, manchmal geht Haas auch zu weit mit seinen Spielereien, er denkt zu wenig an den Leser und hat wohl selber am meisten Spass an seinen Einfällen. Aber man kann sich der Faszination dieses Textes einfach nicht entziehen.
Patrizia Melaugh (PM): Mir haben zum Beispiel die Dialoge am Anfang gut gefallen. Der junge Mann verliebt sich in diese Verkäuferin, sie fragt ihn etwas, er gibt ihr eine ganz lange komplizierte Antwort – und an deren Schluss erfährt man, dass er genau das nicht gesagt habe. Auch das Spielerische im Umgang mit der Form hat mir wirklich gut gefallen. Aber mit der Zeit schlägt mir Haas fast ein bisschen viele Haken – das verwirrt.
ES: Stimmt, so habe ich das auch empfunden. Doch im Grossen und Ganzen bleibt das Buch sehr empfehlenswert, und ehrlich gesagt ist es mir ein Rätsel, warum es nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises erschien.
PM: Echt? Also für mich ist es eher eine interessante Spielerei – du zählst es zur Literatur?
ES: Unbedingt. Ich finde es einfach wahnsinnig originell. Auch Haas’ Vorgängerbuch hat mir diesbezüglich sehr gefallen: «Das Wetter vor 15 Jahren» ist ein Roman in Interviewform, darauf muss man erst einmal kommen. Haas ist für mich einer der originellsten Köpfe der Literaturszene.
Eine weitere Meinung von Buchhändlerin Stefanie Müller aus Potsdam findet Ihr in unserem Video.