Verbindung über Raum und Zeit
Books | Posted 04/06/2013 | Autoren, Belletristik, Orell Füssli | Keine Kommentare »Die türkische Autorin Elif Shafak verwebt in «Die vierzig Geheimnisse der Liebe» das amerikanische Vorstadtleben auf faszinierende Weise mit der Mystik des mittelalterlichen Orients…
Text: Benjamin Gygax
Eigentlich müsste Ella Rubinstein glücklich sein: Sie hat drei Kinder, einen gut verdienenden Zahnarzt zum Mann und ein schönes viktorianisches Haus in Massachusetts. «An erster Stelle auf Ellas Prioritätenliste standen ihre Kinder», beschreibt Elif Shafak ihre Protagonistin. «David und sie hatten eine wunderschöne Tochter, Jeannette, die aufs College ging, und Zwillinge im Teenageralter, Orly und Avi. Außerdem hatten sie einen zwölf Jahre alten Golden Retriever namens Spirit, der Ella schon als Welpe auf ihrer morgendlichen Runde begleitet hatte, ein stets aufmunternder Gefährte an ihrer Seite.» Dennoch: Ella ist nicht glücklich. Ja sie ist noch nicht einmal zufrieden. Als sie von ihrem Mann zum Valentinstag einen Diamantanhänger geschenkt erhält und die Widmung liest, ist sie erschüttert: «Ella hatte es David nie gesagt, aber als sie die Karte las, hatte sie das Gefühl, einen Nachruf zu lesen.» Und als wäre das nicht genug, brüskiert sie gleichzeitig auch noch ihre 19-jährige Tochter. Als diese nämlich verkündet, sie wolle ihren Freund heiraten, kann Ella ihre mütterlichen Befürchtungen nicht für sich behalten und interveniert, indem sie den Freund der Tochter anruft und von den Hochzeitsplänen abzubringen versucht. Dass diese Einmischung nicht den gewünschten Erfolg haben wird, weiss sie eigentlich selbst, doch sie glaubt, den Lauf der Dinge kontrollieren zu müssen.
Liebe als Weg und Ziel
David versucht, Ella inmitten ihres Scherbenhaufens eine neue Aufgabe zu verschaffen. Er vermittelt ihr eine kleine Arbeit für eine Bostoner Literaturagentur. Die diplomierte Anglistin soll ein eingesandtes Manuskript begutachten. Etwas lustlos und von Selbstzweifeln gehemmt, beginnt Ella mit Lesen: «Sie fühlte sich leer, geradezu ermüdet von allem, was in ihrem Kopf umherwirbelte. Die Kreditkartenzahlungen für diesen Monat, Orlys schlimme Essgewohnheiten, Avis schlechte Noten, Tante Esther mit ihren traurigen Kuchen, die schwindende Gesundheit ihres Hundes Spirit, Jeannettes Heiratspläne, die heimlichen Affären ihres Mannes, die fehlende Liebe in ihrem Leben … Einen nach dem anderen sperrte sie ihre Gedanken in kleine Schachteln ein. In dieser Stimmung nahm sie das Manuskript aus dem Umschlag und hielt es einen Moment in den Händen, wie um es zu wiegen. Auf dem ersten Blatt stand in indigoblauer Schrift der Titel des Romans: ‹Süsse Blasphemie›.» Dieser Roman eines geheimnisvollen Schriftstellers mit Namen A.Z. Zahara wird den weiteren Fortgang von Ellas Leben verändern. Schon im Prolog lässt uns die Autorin Elif Shafak wissen, wie die Geschichte ausgehen wird: «Für Ella bedeutete es schon eine gewaltige Anstrengung, auch nur ihre gewohnte Kaffeemarke zu wechseln. Weshalb sich niemand, auch sie selbst nicht, erklären konnte, warum sie im Herbst 2008 nach zwanzig Jahren Ehe die Scheidung einreichte.»
Süsse Blasphemie
Elif Shafak lässt uns nicht nur in einem Entwicklungsroman an den letzten fünf Monaten von Ellas festgefahrenem Eheleben teilhaben, sondern auch tief in eine Geschichte aus dem 13. Jahrhundert eintauchen. Die Autorin hat nämlich Ellas Geschichte mit den Kapiteln aus «Süsse Blasphemie» zu einer Collage montiert. Jedes Kapitel von «Die vierzig Geheimnisse der Liebe» ist mit dem Namen einer Person überschrieben und aus deren Sicht erzählt. Der fiktive historische Roman Zaharas erzählt von der Begegnung des armen Wanderderwischs Schams-e Tabrizi mit dem persischen Gelehrten und Dichter Dschalal ad-Din Rumi um 1244 in der anatolischen Stadt Konya. Damals litt diese Weltregion unter den Kreuzzügen, dem Einfall der Mongolen unter Dschingis Khan und inneren Konflikten. In einem Essay zu ihrem Roman erklärt die Autorin: «In einer Zeit tief verwurzelter Bigotterie und von Konflikten standen Schams und Rumi ein für eine universelle Spiritualität und öffneten ihre Tür für Menschen jeder Herkunft gleichermassen. Sie sprachen von Liebe als Essenz des Lebens; Liebe, die über Länder, Kulturen und Städte verband.»
Eine innige Beziehung
Nicht nur die harten Lebensumstände sind historisch verbürgt, sondern auch die Personen des Romans. Der Sufi Schams existierte tatsächlich; der Wanderprediger wurde «Sonne des Glaubens von Tabriz» genannt, und er begegnete Rumi auch in der Wirklichkeit. Die innige spirituelle Verbindung der beiden stiess auf Unverständnis oder Eifersucht, und die kompromisslose Ehrlichkeit von Schams schuf ihm viele Gegner – so, wie es Elif Shafak beschreibt. 1246 verschwand der mittellose Wanderprediger aus Konya und kehrte noch einmal kurz zurück, bevor sich 1247 seine Spur ganz verlor. Ob Schams wirklich umgebracht wurde, ist unklar, doch es wird allgemein angenommen. Bis heute ist das Grab Schams im iranischen Khoy ein viel besuchtes Monument. Noch bekannter ist sein Schüler Rumi, der auch den Namen Maulana – «unser Meister» – trägt. Seine Verehrung verdankt der Dichter vor allem den während 30 Jahren gesammelten Versen aus «Der Diwan von Shams-e Tabrizi», mit denen er nach dem Verlust seines Freundes seine grosse Trauer ausdrückte. Am bekanntesten sind aber seine Sammlung von Lebensweisheiten, die er in poetischen Vierzeilern festhielt.
Der weg der Sufis
Elif Shafak kam 1971 in Strassburg zur Welt und wuchs unter anderem in Madrid, Amman und Köln auf. Die Tochter einer Diplomatin schrieb in einem Essay zur Geschichte hinter «Die vierzig Geheimnisse der Liebe»: «Ich war ein Einzelkind und wurde von einer alleinerziehenden, arbeitenden Mutter aufgezogen, die nicht viel Zeit mit mir verbringen konnte.» Wie kommt eine junge Frau aus einer so kosmopolitischen, säkularen und gebildeten Welt dazu, sich mit islamischer Mystik zu beschäftigen? Die Gegenwelt lernte die Autorin als Mädchen bei ihrer Grossmutter Sie schreibt: «Weil ich einen Teil meiner Kindheit bei meiner liebevollen Grossmutter mit ihrem Aberglauben verbrachte, war mir klar, dass die Welt nicht ausschliesslich aus materiellen Dingen bestand, dass am Leben mehr dran war, als ich sehen konnte.» Und weil sie Bücher liebte und gern in ihren eigenen Geschichten lebte, begann ihr Interesse am Sufismus mit Büchern: «Ich begann aus intellektueller Neugierde darüber zu lesen, ein Buch führte zum nächsten … Und je mehr ich las, desto mehr verlernte ich, denn das ist es, was der Sufismus mit uns macht: Er führt uns dazu, das zu tilgen, was wir wissen und dessen wir sicher sind. Danach denken wir noch einmal nach – diesmal nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Herzen.» Ihre Auseinandersetzung mit dem Sufismus hat Elif Shafak in jene vierzig Regeln der Liebe gegossen, die dem Roman seinen Namen geben. Schams offenbart sie im Buch nach und nach in seinen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen. Beim Lesen kann man sich den Spass machen, die Regeln zu sammeln. Und wer das nicht selbst tun will, kann sich auf einen Leser verlassen, der die Arbeit übernommen hat: Auf der Webseite wilfried-ehrmann2.blogspot.ch werden die Regeln kommentiert.
Die 42-jährige Elif Shafak ist neben Orhan Pamuk die meistgelesene türkische Autorin. Sie studierte Internationale Beziehungen in Ankara und publizierte ihren ersten Roman 1997. Weltweit erlangte
sie 2006 Bekanntheit, als sie in der Türkei wegen «Herabwürdigung des Türkentums» angeklagt wurde. Sie hatte eine Figur aus ihrem Roman «Der Bastard von Istanbul» sagen lassen: «Ich stamme aus einer Familie, deren gesamte Verwandtschaft 1915 von den Türken abgeschlachtet worden ist, ich habe gelernt, meine Herkunft zu verleugnen, und mir wurde beigebracht, dass es keinen Völkermord gegeben hat.» Aus Mangel an Beweisen wurde sie freigesprochen. Nach 2006 lehrte sie an der Abteilung für Nahost-Studien der University of Arizona in Tucson, zurzeit forscht sie an der Kingston Universität London. Elif Shafak ist mit dem Journalisten Eyüp Can Sağlık verheiratet und wohnt in London und Istanbul. Das Paar hat eine Tochter und einen Sohn.