Franz Hohler GLEIS 4
Petra Bohm | Posted 23/07/2013 | Belletristik | Keine Kommentare »Franz Hohler spielt in seiner raffiniert gestrickten Erzählung geschickt mit der Neugier seiner Leser. Genau wie seine Protagonistin Isabelle gerät man zufällig mitten in die tragische Lebensgeschichte eines Unbekannten…
Und diese Geschichte beginnt mit dessen Tod – man ahnt es schon – auf Gleis 4. Genauer gesagt auf dem Bahnsteig von Gleis 4 des Bahnhof Oerlikon. Dorthin hatte er Isabelle, die ratlos am Fusse der steilen Treppe stand, deren schweren Koffer hinauf getragen und war daraufhin plötzlich tot zusammengebrochen. Isabelle, von Beruf Altenpflegerin, versucht noch den älteren Herrn wieder zu beleben, doch es bleibt bei seinem letzten gehauchten Wort an Sie “Bitte…”.
Von Schuldgefühlen (War ihr schwerer Koffer der Auslöser für sein Herzversagen?) und diesem undefinierten “Bitte” getrieben, begibt sich nun Isabelle und mit ihr der Leser auf eine Spurensuche, die teils kriminalistische Züge annimmt, denn was zufällig und alltäglich möglich beginnt, wird immer merkwürdiger.
Durch den plötzlichen Todesfall hat Isabelle, die eigentlich auf dem Weg zum Flughafen war, ihren Urlaubsflug nach Italien verpasst und hat nun 2 Wochen freie Zeit. Freie Zeit, die sie vielleicht für Besuche bei der Familie oder ein paar Tage im Tessin nutzen möchte, vielleicht aber auch nur, um sich noch etwas länger von einer Operation zu erholen. Doch der Tod des Mannes beschäftigt sie, zumal seine Identität zunächst nicht festgestellt werden kann. Bis zu dem Moment, als in Isabelles Wohnung ein fremdes Handy klingelt. Sie findet es in einer Mappe des Verstorbenen, die sie versehentlich in der Hektik auf Gleis 4 eingesteckt hatte. Ein unheimlicher anonymer Anrufer bedroht “Marcel”. Doch auch die Polizei hat inzwischen die Identität des Toten geklärt und dessen Handy im Hotel gefunden. Es handele sich um den Kanadier Martin Blancpain, seine Witwe Veronique sei auf dem Weg in die Schweiz. 2 Handys, 2 Namen, anonyme Drohungen – Isabelle beschliesst Kontakt zur der Witwe aufzunehmen und die beiden Frauen begeben sich gemeinsam auf Spurensuche in die Vergangenheit eines Mannes ohne Vergangenheit.
“…es gebe Geschichten, die treffen einen, ob man es wolle oder nicht, und so sei sie Teil von Martins Geschichte geworden, doch die sei offenbar noch nicht zu Ende erzählt.”
Jederzeit könnte Isabelle ihre Suche beenden, doch wie von einer unsichtbaren Macht wird sie im Gegenteil immer weiter in Martins (Marcels?) Lebensgeschichte hineingezogen. Trotz gemächlichen Erzähltempos und Franz Hohlers unaufgeregter, betont nüchterner Sprache, nimmt die Spurensuche immer mehr Fahrt auf und hält für Akteure und Leser einige Überraschungen bereit. Aber der Autor gibt seinen Protagonisten auch seine Stimme, lässt diese z.B. über Moral, Rassismus oder Rechtsprechung philosophieren.
Franz Hohler spielt in seiner raffiniert gestrickten Erzählung geschickt mit der Neugier seiner Leser. Genau wie seine Protagonistin Isabelle gerät man zufällig mitten in die tragische Lebensgeschichte eines Unbekannten, zählt am Ende des Buches angstvoll die verbleibenden Seiten in der Befürchtung, dass diese nicht ausreichen könnten, um alle offenen Fragen zu beantworten. Aber keine Angst – soviel darf verraten werden: Der Autor lässt uns das Buch am Ende höchst befriedigt zuklappen, mit einer allerletzten Überraschung in den letzten Zeilen.
Also brav sein und nicht vor blättern!