Lügen ist menschlich
Books | Posted 13/08/2013 | Belletristik, Orell Füssli | Keine Kommentare »
Mit «Das Verschwiegene» liefert die norwegische Schriftstellerin und Journalistin Linn Ullmann einen ungewöhnlichen Roman ab, der das Publikum in die alltäglichen Untiefen des Menschseins führt…
Text: Erik Brühlmann
Drei junge Burschen wollen im Wald bei Mailund, in der Nähe von Oslo, einen Schatz bergen, den sie vor einiger Zeit vergraben hatten. Stattdessen buddeln sie eine Leiche aus: Mille, ein Mädchen, das zwei Jahre zuvor spurlos verschwunden war. Der Anfang von «Das Verschwiegene» der norwegischen Autorin Linn Ullmann würde jedem Krimi gut zu Gesicht stehen. Doch nicht in jedem Buch, in dem eine Leiche auftaucht, steckt auch ein Kriminalroman drin. Vielmehr bereitet die Tochter der Schauspielerin Liv Ullmann und des Regisseurs Ingmar Bergmann mit dem Leichenfund den Tisch für eine Mischung aus einem Psychogramm des allzu Menschlichen und der Geschichte einer nicht perfekten Familie.
Eigentlich ist alles anders
«Ich schreibe über Dinge, vor denen ich Angst habe», sagte Linn Ullmann einmal in einem Interview. «Und ich habe Angst davor, angelogen zu werden – und es nicht zu bemerken.» Die Lüge steht in all ihren Varianten denn auch im Zentrum von «Das Verschwiegene»: Notlügen, Selbstbetrug, Dinge, die nicht gesagt werden oder auf den ersten Blick anders scheinen, als sie sind. Da wäre zum Beispiel Jon, der Vater, ein Schriftsteller, der schon seit Jahren unter einer Schreibblockade leidet. Er belügt sich selbst, indem er sich ständig einredet, dass der lang erwartete dritte Teil seiner Trilogie bald fertig sein wird. Es ist nur eine Frage der Zeit, der Umgebung, der Eingebung, der Organisation seiner Notizen… Siri, seine Frau, lädt sich Unmengen von Arbeit und Verpflichtungen auf – damit sie einerseits Jons Untätigkeit und den Familienunterhalt finanzieren kann und um andererseits vor sich selbst zu verbergen, dass ihr Leben nicht das ist, was es sein sollte, was sie sich vorstellte. «Was habe ich eigentlich aus meinem Leben gemacht?», fragt sie sich denn auch in einem Moment der Schwäche – und findet keine Antwort. Jenny wiederum, Siris Mutter, ist eine Alkoholikerin, die nach langen Jahren der Abstinenz an ihrem 75. Geburtstag wieder zu trinken beginnt. weil sie mit ihrem Leben anfangen darf, was sie will – und nicht etwa, weil sie es braucht oder weil sie den frühen Tod von Siris Bruder noch immer nicht verwunden hat …
Wie ein Fächer
«Das Verschwiegene» ist eine Geschichte, die sich vom Zeitpunkt des Leichenfunds an wie ein Fächer immer weiter öffnet. Mit jedem Kapitel erkennt man ein neues Stück des grossen Ganzen, setzt hier ein Stück Vergangenheit, dort ein Stück Gegenwart ein – und weiss doch nie so recht, wo das Ganze hinführen wird. Klar ist nur, dass Siris und Jons Familie in einem Netz von Lügen und Ungesagtem lebt und sich darin windet. Das erscheint zunächst grotesk, erweist sich bei näherem Hinsehen aber nur als eine scharfsinnige Betrachtung des Alltäglichen. Gleiches lässt sich auch über die Ehe sagen, die Jon und Siri führen und die alles andere als märchenhaft oder romantisch perfekt ist – eine Situation, welche die Autorin, die mit dem Dichter und Bühnenautor Niels Fredrik Dahl verheiratet ist, aus eigener Erfahrung kennt: «Wir beide haben gescheiterte Ehen hinter uns; es ist uns nicht fremd, wie bedrückt und einsam man sich in einer Beziehung fühlen kann», sagt sie und liefert mit Jon und Siri ein literarisches Beispiel. Jon betrügt seine Frau mehrfach, ist ständig bemüht, seine Mailbox «Siri-kompatibel» zu halten, schläft statt im Ehebett lieber im Arbeitszimmer. Und Siri kontrolliert Jons Handy, seine E-Mails, weiss um seine Fremdbeziehungen und wird nicht müde, ihn mit der Nase auf seine Schreibblockade zu stossen. Alles, nur nicht sich aussprechen, ist die Devise.
Der Kinder wegen?
Natürlich, die beiden haben Kinder – Liv und die ältere Alma –, da muss man den Schein des Perfekten natürlich wahren. Und dann ist da auch noch Mille, das Mädchen, das bei Jon und Siri als Au-Pair arbeitet, sodass man die funktionierende Familie geben muss. Doch was hat dieser Schein mit dem Sein zu tun? Mille beispielsweise ist sowieso mehr an den menschlichen Seiten interessiert, die im Verborgenen liegen. Deshalb liebt sie es auch, Menschen zu fotografieren, ohne dass sie es bemerken. Und Alma wird mit der Zeit, wie es heisst, immer schwieriger, wird sozusagen zum Gegenentwurf von Jon und Siri. «Fuck you, Mama!», sagt sie mit unschöner Offenheit, rauft sich mit anderen Mädchen und lässt sich sogar dazu hinreissen, der Lehrerin den Zopf abzuschneiden – einfach, weil sie es kann. Mit dieser Offenheit, egal ob gespielt oder ehrlich, kommen Jon und Siri einfach nicht klar.
Was dies alles mit dem Tod von Mille zu tun hat?
Obwohl niemand in der Familie die Tat begangen hat, hat doch jeder mit seinem Verhalten zum Tod Milles beigetragen, bewusst oder unbewusst. Wer letztlich der Täter ist, bleibt nebensächlich. Denn dieses Wissen ändert nichts mehr am Tod des Mädchens. Viel wichtiger ist – und das ist wohl die oft zitierte Moral der Geschicht’ –, dass es selbst aus verfahrenen Situationen Auswege geben kann. Wenn man sich denn dazu entschliesst, das Verschwiegene auf den Tisch zu bringen.