Andreas Eschbach – “Todesengel”
admin | Posted 09/10/2013 | Krimi | Keine Kommentare »Eine verlassene U-Bahn Station mitten in der Nacht. Jugendliche lärmen, randalieren, demolieren Sitze aus purer Zerstörungslust. Als Augenzeuge bleibt die Frage: Wegsehen? Oder einschreiten und dabei riskieren, selbst Opfer zu werden? Ein Dilemma, dem sich immer mehr Menschen stellen müssen…
Text: Dominik Roth
Für den Rentner Erich Sassbeck ist die Antwort jedenfalls klar: er spricht die beiden Jugendlichen, die in einer Berliner U-Bahnstation lautstark herum poltern, an. Ein Fehler, denn prompt beginnen die Unruhestifter, auf den alten Mann einzuschlagen – selbst, als dieser schon lange wehrlos am Boden liegt. Beinahe bezahlt Sassbeck sein Einschreiten mit dem Leben – würde nicht plötzlich ein in gleissendes Licht getauchter Engel auftauchen und die beiden Schläger erschiessen.
So plötzlich wie der Retter aufgetaucht ist, so schnell verschwindet er wieder. Was zurückbleibt sind zwei Tote und ein alter Mann, dem keiner diese abstrus wirkende Geschichte des „Retters von Gottes Gnaden“ abkauft. Nicht die Medien, und schon gar nicht die Polizei. Denn Sassbeck war in seinem früheren Leben Grenzschutzbeamter der ehemaligen DDR – zunächst eine gefundene Story. Und so wird aus dem eigentlichen Opfer schneller als man „Selbstjustiz“ sagen kann, der Täter konstruiert. Doch es häufen sich die Fälle, in denen ein durch Berlin streifender „Engel“ die Wehrlosen beschützt und deren Leben rettet, in dem er die Gewalttätigen richtet. Wer ist diese geheimnisvolle Gestalt? Der Journalist Ingo Praise, eigentlich ein drittklassiger Möchtegern-Reporter, stellt sich genau diese Frage. Durch einen Zufall ist er ganz nahe dran an dieser Geschichte – und merkt schon bald, wie er durch die Sensationslust des Publikums gnadenlos korrumpiert wird.
Keine Frage, mit „Todesengel“ hat Andreas Eschbach – neben Sebastian Fitzek momentan DER deutsche Thriller-Autor überhaupt – einen erschreckend aktuellen Roman geschrieben. Immer öfter liest man von Fällen, in denen Menschen ihre Zivilcourage mit dem Leben bezahlen müssen. Nicht selten sieht sich der Leser vor die Frage gestellt: wie würde ich handeln? Würde ich mich in Gefahr begeben, um einen anderen Menschen zu retten?
Dass Eschbach dabei auch den Umgang der Medienlandschaft mit diesen Themen („Gut ist, was knallt!“) sowie die derzeitige rechtliche Situation von allen Seiten beleuchtet, der Thriller bis zu seinem furiosen Showdown trotzdem flüssig zu lesen und konstant spannend bleibt, ist ein grosser Verdienst.
„Notwehr“ ist ein recht eng ausgelegter Begriff, so lernen wir. Vielleicht ist Selbstjustiz doch die richtige Strategie gegen ein Rechtssystem, dass Steuersünder scheinbar härter bestraft als Mörder und Totschläger? Auch diese Gedanken nisten sich gnadenlos in den Hirnwindungen der Leser ein, ohne, dass diese es vielleicht wollen.
„Todesengel“ ist ein Thriller, der lange nach der Lektüre im Kopf bleibt und mit dem man sich wunderbar auseinandersetzen – und über dessen Thema man sich im Bekanntenkreis streiten kann. Definitiv eine der interessantesten Neuerscheinungen in diesem Jahr.