Es kommt Dicker
admin | Posted 06/11/2013 | Krimi | Keine Kommentare »Der Genfer Autor Joël Dicker erzählt den Fall Harry Quebert – und danach gleich auch noch die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Der Krimi ist ein vielschichtiges, unterhaltendes Verwirrspiel…
Text: Benjamin Gygax
Im kleinen Schweizer Literaturzirkus sind Sensationen eher selten. 2012 gab es aber eine zu bestaunen: «La verité sur l’affaire Harry Quebert» des Genfers Joël Dicker. Der 700 Seiten starke Krimi wurde in der Romandie begeistert aufgenommen und in Frankreich mit Lob und Preisen überhäuft. Der erst 28-jährige Autor erhielt den Grand Prix du Roman der Académie Française zugesprochen und gleich auch noch den Prix Goncourt des Lycéens und den Prix littéraire de la Vocation. Die Verleihung dieser renommierten Auszeichnungen blieb nicht folgenlos: Joël Dickers Roman ging in Frankreich über 600’000-mal über die Verkaufstheke, die Übersetzungsrechte wurden in über 30 Sprachen verkauft. Jetzt erreicht die Sensation auch die Deutschschweiz: Piper hat die Übersetzung «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» herausgebracht.
Asyl in Neuengland
Womit hat der Autor solche Begeisterungsstürme entfacht? Thema und Ort der Handlung erinnern ein wenig an die grossen amerikanischen Autoren Philip Roth oder Jonathan Franzen: Der junge Schriftsteller Marcus Goldman brütet in New York über seinem zweiten Werk. «Zu Beginn des Jahres 2008, also rund anderthalb Jahre nachdem ich dank meines ersten Romans zum neuen Hätschelkind der amerikanischen Literaturszene geworden war, ereilte mich eine fürchterliche Schaffenskrise, ein Syndrom, das bei Schriftstellern, die einen sofortigen, durchschlagenden Erfolg erlebt haben, offenbar nicht selten vorkommt», berichtet der Protagonist. «Die Krankheit befiel mich allerdings nicht schlagartig, sondern nistete sich ganz langsam ein. Es war, als würde mein Gehirn, einmal befallen, nach und nach einfrieren.» Jetzt sitzt Goldman sein Agent im Genick und sein Verleger wirft ihm an den Kopf: «Verstehst du was von Wirtschaft, Marc? Bücher sind ein austauschbares Produkt geworden. Die Leute wollen ein Buch, das ihnen gefällt, sie ablenkt und unterhält. Und wenn du ihnen das nicht lieferst, tut es dein Nachbar, und du bist abgemeldet.» In seiner Not besinnt sich Marcus Goldman auf Harry Quebert. Dieser war nicht nur sein College-Professor und Boxtrainer, sondern ist selber einer der angesehensten Autoren Amerikas und hatte Marcus als Mentor dazu gebracht, seinen Traum vom Schreiben mit Biss zu verfolgen. Also fährt der Jungautor zu seinem Mentor in die verschlafene Küstenstadt Aurora in New Hampshire.
Eine verbotene Liebe und ihre Folgen
Während sich Marcus bei Harry in dessen Strandhaus ausweint, platzt die Bombe: Auf dem Anwesen wird die Leiche von Nola Kellergan gefunden. Sie verschwand 1975, erst 15-jährig. Seither liegt ein Schatten über der beschauliche Gemeinde. Und jetzt erfährt Marcus: Den Teenager und den arrivierten Autor in seinen Dreissigern verband eine innige Beziehung – und Harry Queberts gefeierter Roman «Der Ursprung des Übels» ist die literarische Verarbeitung jener verbotenen Liebe. Quebert ist der Hauptverdächtige und wird in Haft genommen. Gegen jeden gut gemeinten Rat bleibt Marcus in Aurora und recherchiert auf eigene Faust, weil er nicht an die Schuld seines väterlichen Freunds glauben will. Also befragt er alle Bewohner der kleinen Stadt, die vor 33 Jahren schon hier ansässig waren – Nolas Vater und Freundinnen, ihre Arbeitgeberin im lokalen Diner, die Polizeibeamten. Nach und nach erfahren wir mit Marcus Goldman, dass viele von ihnen etwas mehr wissen oder ein bisschen stärker in die Geschichte verwickelt sind, als es zunächst den Anschein macht. Joël Dicker deckt seinen Plot Schicht um Schicht auf und vollzieht dabei mehr als einmal eine atemberaubende Kehrtwende, bis Marcus Goldmann sich endlich von seiner Schreibblockade lösen und «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» schreiben kann.
Das spiel mit dem Alter Ego
Ein Buch im Buch und beide mit identischem Titel. Ein junger Erfolgsautor mit seinem zweiten Werk: Die Parallelen scheinen offensichtlich! Ist Marcus Goldman das Alter Ego von Joël Dicker? Der Genfer verneint ausdrücklich und sagt, er habe über einen Erfolgsautor geschrieben, während zu dieser Zeit mehrere seiner Manuskripte abgelehnt worden waren. «Was mich mit Marcus verbindet, ist die Begeisterung für Sport, aber auch die obsessive Suche nach der Wahrheit und seinen Blick auf das Leben, der zuweilen noch etwas verschwommen ist.» Dicker dementiert also und scheint Vergleiche dennoch nachgerade zu provozieren. Er spielt vergnügt mit der Erwartung seiner Leserinnen und Leser, vieles davon spiegelt sich in kurzen Rückblenden auf die Vergangenheit von Mentor und Schüler. Einmal lässt Dicker Harry sagen: «Ich werde Ihnen einunddreissig Ratschläge geben, und zwar im Lauf der nächsten Jahre. Nicht alle auf einmal.» Und auf Marcus Frage hin, wieso es gerade einunddreissig sind: «Weil einunddreissig ein wichtiges Alter ist. Das erste Jahrzehnt formt Sie als Kind. Das zweite als Erwachsener. Und das dritte macht Sie zum Mann oder auch nicht. Mit einunddreissig sind Sie aus dem Gröbsten raus.» Joël Dicker ist zwar erst 28 Jahre alt, scheint aber das Gröbste auch schon hinter sich zu haben. Er sagt: «Ich habe das Gefühl, in den letzten zwei Monaten um zehn Jahre gealtert zu sein und gleich noch einmal zehn am Tag der Preisverkündigung des Goncourt.» Der Sohn eines Französischlehrers und einer Buchhändlerin gründete mit zehn Jahren eine Tierzeitschrift, die immerhin fünf Jahre lang erschien. Nach der Matura zog er nach Paris, wo er ein Jahr lang am Cours Florent Schauspiel studierte. 2010 schloss er an der Universität Genf sein Jurastudium ab. 2012 erschien sein Erstling «Les Derniers Jours de nos pères», ein historischer Roman aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Vom leben, Schreiben und Fallen
Bei einem so raffiniert verschlungenen Plot wie jenem von «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» kann man kaum glauben, dass er nicht auf dem Reissbrett entworfen wurde. Doch Dicker beteuert: «Es gibt keinen Plan. Meine Methode besteht vielmehr darin, mir zu vertrauen und voran zu gehen. Das ist eine lange und bisweilen entmutigende Arbeit.» Vielleicht hat diese Arbeitsweise zu einem Motiv geführt, welches das ganze Buch durchzieht. Harry vergleicht das Leben und das Schreiben mit dem Fallen: «Schauen Sie sich doch an, Marcus: Sie trauen sich nicht zu fallen. Und genau deshalb werden Sie, wenn Sie das nicht ändern, ein hohler, nichtssagender Mensch werden. Wie kann man leben, wenn man nicht fallen kann?» Es sind solche Abschnitte, die den Krimi zu einer interessanten Reflexion über das Schreiben machen. Andere Leserinnen und Leser sehen ihn vor allem als Spiegel Amerikas, wo Metropolen und Kleinstädte, Offenheit und Bigotterie oder Erfolg und Verdammnis so nahe nebeneinander existieren. Joël Dicker kennt Neuengland von regelmässigen und längeren Aufenthalten gut und liebt es.
Grosser Roman oder Strandlektüre?
Bei allem Erfolg – «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» fand nicht nur Gefallen. Zwar sagte Bernard Pivot, Literaturjournalist und Jurymitglied des Goncourt: «Wenn Sie die Nase mal in diesen grossen Roman gesteckt haben, sind Sie hin und weg.» Ein anderes Jurymitglied, der Autor Patrick Rambaud, fand gleich nach der Preisverkündigung weniger schmeichelhafte Worte. Er bezeichnete das Buch als «Strandlektüre mit schlechten Dialogen». Abgesehen davon, dass Lesen am Strand eine schöne Sache ist, hat er einen wunden Punkt erwischt: Die Szenen zwischen dem ungleichen Liebespaar Harry und Nola wirken hin und wieder tatsächlich etwas pathetisch. Ob das wirklich Joël Dickers Verschulden ist, ob es an der Übersetzung liegt oder ob der Autor mit diesem Stil sogar das Alter des Mädchens hervorheben will, muss der Leser selbst beurteilen. Dass sich der Schriftsteller in diesen Teenager verlieben soll, wird mit diesen Dialogen nicht plausibler. Definitiv unglaubwürdig ist dagegen, dass sich der bärbeissige Ermittler so auf Marcus einlässt, ihn über Ermittlungsergebnisse informiert und ihn gar an offiziellen Zeugeneinvernahmen teilnehmen lässt. Aber wen kümmert das bei einem Krimi? Bei einem so voluminösen und vielschichtigen Buch wäre es kleinlich, dem Autor eine Ungenauigkeit vorzuhalten, die eine packende Kriminalgeschichte vorwärts treibt – bis zur verblüffenden Wahrheit im Fall Harry Quebert.