May 7, 2014
Konzepte für den Gegenwartsdiskurs. Heute: Post-Internet.

Eine Notiz von Ben Kaden / @bkaden

Vor einigen Jahren tauchte im Diskurs zur Gegenwartskunst der Ausdruck post-internet-art auf. Er geht mutmaßlich zurück auf die Medienkünstlerin Marisa Olson, die 2006 in einem eher kurzen Gespräch über Online- bzw. Internet-Related-Art ihre Schöpfungspraxis so beschreib:

“ What I make is less art "on” the Internet than it is art “after” the Internet. It’s the yield of my compulsive surfing and downloading. I create performances, songs, photos, texts, or installations directly derived from materials on the Internet or my activity there.“ (Cornell, 2006)

Zwei Jahre später transformierte Marisa Olson das noch fast vorsichtig formulierte "after the Internet” in Post-Internet. (Regine, 2008) Auf einmal war das Phänomen mit einer griffigen Bezeichnung in der Welt. Manches Medium sah in dieser Bewegung, nicht ohne Ironie, sogar “der Netzkunst zweiten Frühling”. (bianca, 2011a)

Mittlerweile darf der Ausdruck im Diskursfeld der zeitgenössischen Kunst als etabliert gelten und ein Blick in aktuelle einschlägige Medien führt auch beim ungezielten Einblättern umgehend zu entsprechenden Begegnungen.

So schreibt bespielsweise Boris Pofalla in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift monopol über Arbeiten der Künstlerin Katja Novitskova:

“Doch nicht alles in der Post-Internet-Art ist so süß wie ein Giraffenbaby. Novitskovas Messer aus Epoxidharz und geborstenen Siliziumplatten (Shapeshifters, 2013) verbreiten einen Hauch "Mad Max”: Dein Computer kann eine Waffe sein, auch wenn du gar nicht hacken kannst.“ (Pofalla, 2014)

Ob allerdings die Post-Internet-Generation, zu der die 1984 geborene Katja Novistkova also gehört, überhaupt eine Beziehung zu dem wüsten Australischen Rachfeldzug-Film aus dem Jahr 1980 aufbauen kann oder will, bleibt ungewiss. Man hofft jedoch, dass das eher nicht der Fall ist. 

Im Jahr 2011 zeigt sich die Künstlerin jedenfalls an anderen Fragen interessiert:

"Diese jungen Künstler, die sich langsam unter dem Banner einer “Neuen Netzkunst” sammeln und aus gutem Grund schon wieder gar nichts mehr damit zu tun haben wollen, sie sind nicht nur postideologisch oder postironisch, sondern in gewissem Sinne – nämlich dem, dass das Netz als Bezugsrahmen tatsächlich nicht mehr der Rede wert ist – auch “post-internet”. “2011 wird vielleicht das Jahr sein, in dem wir das Internet komplett als Referenzpunkt fallen lassen,” sagt Katja dann auch. Wie die Sache dann nennen? “Real Contemporary” böte sich an, als Name für eine Kunst, die tatsächlich radikal zeitgenössisch ist, total auf der Höhe. Katja lacht und findet das sofort gut.” (bianca, 2011b)

Offen bleibt jedoch und dennoch, wie man nun den Ausdruck “Post-Internet” fassen kann und mehr noch, ob er sich womöglich auch für eine Anwendung außerhalb des Kunstdiskurses eignet. 

Eine mögliche Annäherung bietet Stefan Heidenreich in einem Essay zur Netzkunst in der aktuellen Ausgabe von FRIEZE d/e. (Heidenreich, 2014) Stefan Heidenreich, geboren 1965 und somit auch mit einer gewissen naturgegebenen Kompetenz zur Langzeitbetrachtung der Entwicklung digitaler Medien versehen, beschreibt zunächst einen Zustand, der auch den meisten Mitgliedern der LIBREAS-Redaktion noch vertraut ist:

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Wer zudem, wie Teile der LIBREAS-Redaktion, seine Kindheit in der DDR verbrachte, in der es wenigstens partiell einen akuten Mangel an Festnetz-Telefonen (stattdessen gab es zwei öffentliche Münzfernsprecher im Wohngebiet und man verabredete Telefonate vorab per Postkarte) und an bestimmten analogen Tonträgern gab (für die Amiga-Vinyl-Lizenzpressung von Madonna’s True-Blue-Album stand man schon mal vier Stunden vor dem RFT-Geschäft, nur um zu erfahren, dass die angelieferten dreißig Exemplare bereits ausverkauft sind), hat nicht selten sogar eine gewisse Geduld und Demut an die Verfügbarkeit zu (attraktiven) Medienformen tief in seiner Identität verankert und steht der Entzauberung durch Omnipräsenz, die sich zum Beispiel beim Phänomen der Populärmusik erst durch Napster (immerhin noch mit dem Ruch der Illegalität aufgewertet) und heute eben Spotify einstellt.

Auf einer ästhetischen Ebene bleibt Musik auch digital nicht reizlos. Aber als Konsumprodukt und oft reine Alltagstapete erzeugt sie nur noch selten die innere Anbindung, die sich zuweilen zwischen ihr und dem Rezipienten in der Mangelkultur ergab. Interessanterweise zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass es damals wie heute einen Hang der Affirmation gab. Während der Mangel eine kritische Auseinandersetzung zumindest erschwerte und man bei bestimmten Medieninhalten überhaupt froh war, einen Zugang zu haben, sich also nicht erdreiste, mäkelnd auf die Fehler zu blicken, ist es in der Überlaufkultur der Gegenwart eher so, dass man beim leichtesten Anflug möglichen Nicht-Gefallens einfach weiterklickt, weg-filterbubblet und ebenfalls kein differenziertes Hinterfragen von Eindruck und Auslöser mehr erfolgt. 

Das passt dann auch vielleicht ganz gut zudem, was Stefan Heidenreich als “Post-Internet” beschreibt:

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Das Internet und die damit verbundene Kommunikationsfülle ist derart allgegenwärtig und sogar verinnerlicht (wobei die Lifebraries, die Frank Hopfgartner gestern im Berliner Bibliothekswissenschaftlichen Kolloquium entwarf (Hopfgartner, 2014) dem noch eine Steigerungsform hinzufügen), dass sie fast nur noch mit Affirmation zu bewältigen ist. Es erfordert jedenfalls erhebliche Arbeit, sich in regelmäßig in einer differenzierenden kritischen Distanz zu den omnimedialen Strukturen zu begeben, nicht zuletzt, da uns auch der kritische Diskurs über dieselben Sensorplattformen (=Smartphones) vermittelt wird. 

Der spannende Schritt des “Post-Internet” ist der über den Konsum fremdgelieferter Inhalte, die immer noch eine gewisse Mittelbarheit bewahren, hinaus, also die Integration des Mensche mit diesen Nah- und Unmittelbartechnologien, die mit der Dreieinigkeit aus Self-Tracking, Self-Knowledge und Self-Hacking eine Praxis des Selbst-Bewusstseins hervorbringen, welche sich sehr grundsätzlich von der aus Prä-Internet-Kultursphären unterscheidet.

Bestimmte Aspekte wie das von Stefan Heidenreich skizzierte Medienleben von 1993 sind bereits heute fast nur noch als abstraktes Narrativ fassbar. Die lückenlose Dokumentation von Interaktionsspuren, die soweit geht, dass man am Abend eines Tages nicht nur automatisiert eine Kontaktliste zu den Akteuren erhält, mit denen man interagierte, sondern zum Beispiel dank Bluetooth-Sensoren auch zu denen, mit denen man hätte interagieren können, weil sie räumlich irgendwann nah genug waren, wirkt unvermeidlich darauf zurück, wie wir uns in der Real- und in der Kommunikationswelt bewegen.

Dass sich die Strategien der Selbstpositionierung und der Kommunikationsmanipulation maßgeblich ändern werden, ist im Ausdruck Self-Hacking bereits deutlich angesprochen. Die äppäräte-Kultur, die Gary Shteyngart vor drei Jahren zum Rotationsinstrument seiner überdrehten Super-Sad-True-Love-Story machte, scheint nun fast gar nicht mehr utopisch, mitunter sogar eher zurückhaltend ausgesponnen. 

Post-Internet ist in diesem Zusammenhang also tatsächlich eine Art Distanz- oder besser noch Differenzverlust. “Wir denken nicht mehr ans Internet, wenn wir auf es zurückgreifen”, denn wir greifen, so könnte man ergänzen, einfach bei nahezu allen Kommunikations- und zunehmend auch sonstigen Handlungen auf Netzelemente zurück.

Und mehr noch, greift das Lifelogging eigentlich permanent auf uns zurück, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Wir spüren das Internet nur noch, wenn es, aus welchem Grund technischen Versagens auch immer, fehlt. Es gibt in der Post-Internet-Welt kein Leben mehr abgetrennt vom Netz, weshalb der Hinweis auf das Konzept “Internet” so überflüssig erscheint, wie davon zu sprechen, dass wir in einer Sauerstoff-Sphäre atmend leben. Was Katja Novistkova im oben angeführten Zitat für den Kunstbetrieb proklamierte, nämlich den Wegfall des Internets als Referenzpunkt, gilt dann auch für das Leben an sich. Tumblr und Tumblerismus sind womöglich auf eine besondere Weise sehr anschaulich, wenn man an dieser Stelle einen Indikator für ein entsprechendes Verschmelzen von Kunst und Leben sehen möchte. Bei Facebook freilich sieht es wieder anders aus.

Etwas ge- bzw. herablassener tritt schließlich in derselben Ausgabe von FRIEZE d/e Sascha Kösch, Discjockey, Mitgründer und Endredakteur der unlängst eingestellten Zeitschrift De:Bug (“Magazin für elektronische Lebensaspekte”) dem Post-Internet-Konzept gegenüber. (Kedves, Kösch 2014) Auf die Frage seines Interviewers Jan Kedves nach dem Post-Internet gefragt, antwortet Sascha Kösch:

“Ehrlich gesagt: Ich finde [den Begriff] blöd. "Nach dem Internet” werden wir nicht mehr erleben. Das Netz geht nicht weg.“

Und ergänzt, von Jan Kedves darauf hingewiesen, dass es beim Post-Internet (ähnlich übrigens wie beim Begriff der Postmoderne) nicht um ein "danach” geht, sondern vielmehr um eine Omnipräsenz, der man nicht entgehen sondern die man nur bejahen kann, ergänzt De-Bug-Redakteur:

“Selbstverständlichkeit mach Dinge nicht automatisch besser. Nur weil man ständig von etwas umgeben ist, heißt das nicht, dass man nicht darüber nachdenken oder ein Quäntchen Kritik dafür übrig haben sollte. Mir ist klar, dass gerade das rein Affirmative, Unkritische die Post-Internet-Kunst interessant machen soll. Aber dieses bunte Nebeneinander von lustigen Logos…”

Sascha Kösch, der in etwa so alt ist wie Stefan Heidenreich und nur ein wenig jünger als Jaron Lanier, verortet mit dieser etwas hemdsärmeligen Skepsis in einem anderen Phänomen, was möglicherweise nicht weniger typisch für das Post-Internet und aus anderen Lebensbereichen nur zu gut bekannt ist: Wenn sich eine Entwicklung von ihrer Vorhut abkoppelt, zum Massenphänomen wird und in Variationen wuchert, die mit dieser Ursprungsidee wenig bis nichts mehr zu tun haben, dann sind es sehr häufig die Vertreter dieser Vorhut, die am ehesten, am deutlichsten und im Ideafall auch am fundiertesten Kritik an diesem Phänomen üben.

Am Ursprung dieser Kritik steht in der Regel eine grundsätzliche Ernüchterung. So malt Sascha Kösch aka DJ Bleed die Zukunft des Digitaldiskurses, um den es De:Bug ging, ganz dunkelgrau:

“[…] ich bin auch nicht allzu optimistisch. Ich sehe ja an meinem eigenen Facebook-Feed, wie es da um die Aufmerksamkeit steht: Selbst wenn es große Themen wie Snowden und die NSA gibt, teilen die Leute dort fast nur Emo-Hypelines à la Upworthy: "17 traurige Meerschweinchen, die dich im Herz bluten lassen”.“

(Berlin, 07.05.2014)

. bianca (2011a) Netzkunst-Neutod. Oder: Der Netzkunst zweiter Frühling. In: De:Bug / de-bug.de, 07.04.2011

. bianca (2011b) Für eine Handvoll JPGs. Tumblerismus und der Internet State of Mind unter die Lupe genommen. In: De:Bug / de-bug.de, 07.04.2011

. Lauren Cornell (2006) Net results. Closing the Gap between art and life online. In: timeout.com, 09.02.2006

. Stefan Heidenreich (2014) Missing Links. In: FRIEZE d/e, No. 14. Mai 2014, S. 72-75

. Frank Hopfgartner (2014) Zeig mir mein Leben! Erstellung individueller "Lifebraries” mithilfe von Lifelogging-Technologien. Vortrag gehalten im Berliner Bibliothekswissenschaftlichen Kolloquiums des Instituts für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin am 06.05.2014

. Jan Kedves, Sascha Kösch (2014) Unplugged. Interview. In: FRIEZE d/e, No.14, Mai 2014, S. 76f.

. Boris Pofalla (2014) Künstler, die uns aufgefallen sind. Katja Novitskova. In: monopol. Magazin für Kunst und Leben . Mai 2014, S.38

. Regine (2008) Interview mit Marisa Olson. In: We make money not art.com. 28.03.2008