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Wann sind Sie auf Liquid Democracy gestoßen und was hat Sie daran fasziniert?
Das war im Sommer 2009. Damals wurde in Berlin sehr viel über Liquid Democracy gesprochen. Die ursprünglich aus den USA stammende Idee erschien ebenso einfach wie genial. Das beste aus zwei Welten: ein fließender Übergang zwischen direkter und repräsentativer Demokratie.
Allerdings erschienen uns (Jan Behrens, Axel Kistner, Andreas Nitsche und Björn Swierczek) die bestehenden Ansätze wenig zielorientiert. Es wurde unglaublich viel Ballast angesammelt, zugleich gewannen wir den Eindruck, dass einige bereit waren, Abstriche von der Grundidee zu machen. Daher diskutierten wir über eine konsequente Umsetzung von Liquid Democracy, die allen interessierten Organisationen zur Verfügung stehen sollte.
Axel Kistner
Mit der Software LiquidFeedback haben Sie eine Liquid Democracy-Software entworfen. Was sind die Grundpfeiler von LiquidFeedback?
Kern der Liquid Democracy war für uns stets die weisungsfreie, übertragbare Stimmvollmacht (Delegation). Die Übertragbarkeit der Delegationen ist ein wesentliches Konstruktionsmerkmal, durch das es möglich wird, auf ein beliebiges anderes Mitglied zu delegieren, ohne von einer geringeren Wahrscheinlichkeit der Ausübung der Vollmacht als bei Delegation an einen prominenten Wortführer ausgehen zu müssen.
Zentrale Meinungsführer werden also nicht prinzipbedingt gefördert. Bilden sie sich dennoch heraus, ist es offenbar so gewünscht oder sie verschwinden sehr schnell wieder. Delegationen erfolgen aufgrund vermuteter Kompetenz, Reputation, Vertrauen und natürlich auch Sympathie.
LiquidFeedback besteht aber aus mehr als Liquid Democracy. Der eigens für LiquidFeedback entwickelte Antragsprozess macht LD für demokratische Entscheidungsprozesse in Organisationen nutzbar. Wichtig war uns, dass es vor der eigentlichen Abstimmung eine Diskussionsphase gibt, damit Vor- und Nachteile abgewogen, Alternativen erwogen und allen Beteiligten zur Kenntnis gebracht werden können. Wir hatten nicht den Anspruch, den Teilnehmern den Ort der Diskussion vorzuschreiben, vielmehr wollten wir den Diskurs durch Messung der Zustimmung zu Ideen und Veränderungsvorschlägen begleiten. Dabei sollten alle Teilnehmer gleichberechtigt sein.
Schließlich war uns noch wichtig, dass die Nutzer nicht zum taktischen Abstimmen oder gar zu Vorabverhandlungen im “Hinterzimmer” ermuntert werden. Daher haben wir uns für die Präferenzwahl nach Markus Schulze entschieden.
Andreas Nitsche
Was ist zu beachten, wenn LiquidFeedback in Parteien oder zur Bürgerbeteiligung getestet werden soll?
Wir haben uns bei LiquidFeedback ganz klar auf den Einsatz innerhalb von Organisationen konzentriert. Wir glauben auch nicht, dass man unverbindlich experimentieren kann.
Echte Beteiligung erfordert Mut, mindestens den Mut eine Situation zuzulassen, in der offensichtlich wird, wenn ein Vorstand anders entscheidet als die Mehrheit der Mitglieder. Wir haben potentiellen Anwendern stets vom Einsatz abgeraten, wenn klar wurde, dass aufgrund der Rahmenbedingungen kein ernsthafter Einsatz möglich ist.
Andreas Nitsche
Kann Liquid Democracy das Parlament eines Tages ersetzen?
Erfolgreiche Bürgerbeteiligung wird auf lange Zeit selektiv und initiativgetrieben sein wird. Jemand hat ein Anliegen und sucht Mitstreiter. Wenn das Anliegen auf Resonanz stößt, wird es immer intensiver diskutiert, weiterentwickelt und möglicherweise umgesetzt. Auf Volksvertreter wird man nicht verzichten können. Die Chance von Liquid Democracy liegt vor allem darin, deren Reputation und das Vertrauen in die Parteien mit ihrem grundgesetzlichen Auftrag wiederherzustellen.
Andreas Nitsche
Immer mehr Parteien und Institutionen schreiben sich Bürgerbeteiligung mit Liquid Democracy auf die Fahnen. Was halten Sie von solchen Ansätzen?
Uns fehlt da in vielen Fällen die Ernsthaftigkeit. Selbst wenn Ergebnisse eines Beteiligungsprozesses (nur) eine Empfehlung für Entscheidungsträger bilden sollen, darf es keinen Zweifel darüber geben, dass sie den Willen der Teilnehmer ausdrücken. Wenn die Entscheidungen darüber hinaus für eine bestimmte Personengruppe (unabhängig von der Teilnahme im Einzelfall) gelten sollen, muss diese Personengruppe sich zunächst auf die Nutzung eines solchen Systems verständigt haben und jedes Mitglied dieser Gruppe muss die Möglichkeit haben, genau einen Zugang zum System (also auch nicht mehrere!) zu erhalten. Ohne diese Voraussetzungen handelt es sich um Beteiligungssimulationen mit zweifelhaften Ergebnissen, denen man kaum Aussagekraft oder gar Verbindlichkeit zugestehen wird. Für Bürger lohnt sich die Teilnahme aber nur, wenn die Beteiligung konkrete Auswirkungen hat.
Andreas Nitsche
Kann Liquid Democracy für die Bürgerbeteiligung auf Bundesebene genutzt werden?
Der realistische Weg zu mehr Mitbestimmung liegt in der grundlegenden Erneuerung der Entscheidungsprozesse in Parteien. Liquid Democracy kann den Mitgliedern unmittelbaren Einfluss verschaffen und Parteien dadurch attraktiver für die Bürger machen. Ohne diese Veränderung bleibt Mitbestimmung eine Illusion.
Andreas Nitsche