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Die Erziehung des Lesers

Doch der wahre Schriftsteller läßt Planeten durch den Weltraum ziehen, ersinnt einen schlafenden Mann und macht sich eifrig an der Rippe des Schläfers zu schaffen.

(Vladimir Nabokov)

Jedes Jahr erscheinen in Deutschland rund 90.000 neue Bücher. Buchhandel, Leser und Feuilleton ächzen unter den Lasten dieser unzähligen Romane, die niemand mehr überblicken oder gar gelesen haben kann. Anfang Januar stellte schon Zoë Beck auf ihrem Blog Erase & Rewind die Frage, wie viel man von einem Buch gelesen haben müsse, um es beiseite zu legen. Manche Menschen mögen solche Fragestellungen belächeln, sie lesen einfach gar nicht. Und wenn doch, dann begnügt man sich mit flatterhaften Illustrierten oder gar – noch schlimmer – der Tageszeitung, deren Name nicht genannt werden darf.

Für den leidenschaftlichen Leser ist diese generelle Lektüreverweigerung selbstredend keine Option. Deshalb gibt es Bücher über das Lesen, das richtige und das falsche. Denn das Lesen ist eine Kunst, die erlernt werden muss. Je länger man liest, desto besser kann man auswählen, desto zielsicherer kann man sich in dieser Flut von Literatur bewegen, die jedes Jahr auf’s Neue die Buchhandlungen überschwemmt. Und manchmal, selten zwar, aber es kommt vor, nur Ödnis zurücklässt. Ein abgeerntetes Feld, ein Thema, das so oft besprochen, beschrieben, bespiegelt worden ist, ein totgerittenes Pferd oder – anders ausgedrückt – : eine Sache, über die niemand in den nächsten Jahrzehnten noch irgendetwas lesen möchte, selbst, wenn es ein vielversprechendes Thema sein könnte.

Diese schiere Masse an Geschichten, an Papier und Gedanken verleitet manch einen zu oberflächlichem Lesen. Zu viele Bücher, zu wenig Zeit, ja, einige Leser begreifen sich gar in stetigem Wettlauf gegen die Zeit. Immer kommen sie zu spät, für jedes gelesene Buch erscheinen dutzende neue. Es könnte eine Sisyphosarbeit sein. Deshalb stellt Vladimir Nabokov in ,Die Kunst des Lesens‘ gleich von Vornherein klar:

Wer liest, sollte liebevoll auf Einzelheiten achten. Gegen den Mondschein der Verallgemeinerung ist nichts einzuwenden, vorausgesetzt, er zeigt sich, nachdem die sonnigen Kleinigkeiten des Buches liebevoll zusammengetragen wurden. Wer mit einer fertigen Verallgemeinerung an ein Buch herangeht, beginnt am falschen Ende und bewegt sich von ihm fort, bevor er angefangen hat, es zu verstehen. Nichts wäre langweiliger oder dem Autor gegenüber ungerechter, als daß man sich beispielsweise mit der vorgefaßten Meinung an die Lektüre von ,Madame Bovary’ mache, es gehe darin um eine Bloßstellung des Bürgertums.

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Vladimir Nabokov

Nabokov erklärt im Folgenden nicht nur, was er bei einem Leser für wünschenswert und was für weniger erquicklich hält, sondern er wirft auch einen Blick auf Klassiker der europäischen und russischen Literatur. Mit viel Witz, Esprit, Charme und Schärfe macht dieses Buch Lust darauf, Literatur auf tiefere Art als durch bloße Identifikation und Unterhaltung zu entdecken.

Entstanden ist Literatur nicht an dem Tag, da ein Junge hilferufend aus dem Neandertal gerannt kam, weil ihm ein großer grauer Wolf auf den Fersen war: sie trat in jenem Augenblick ins Leben, als ein Junge gelaufen kam und schrie,ein Wolf verfolge ihn, ohne, daß dem so war.

Neben Jane Austen, Charles Dickens und Gustave Flaubert finden wir Gogol, Tolstoi und Tschechow. Ein Buch, das der Flut an Neuerscheinungen einen Damm der Klassiker entgegensetzt. Es gibt nicht nur das, was jetzt ist, – es gibt noch viel mehr. Mit der Präzision eines leidenschaftlichen, eines akribischen Lesers durchstreift Vladimir Nabokov die Weltliteratur, so lesenswert wie die Werke, denen er sich widmet!

Einen ganz anderen Ansatz wählt Rolf Vollmann in ,Die wunderbaren Falschmünzer‘. Dieses Mammuttaschenbuch (mittlerweile nur noch antiquarisch als solches erhältlich) eröffnet uns auf über 1000 Seiten die Welt der Literatur zwischen 1800 und 1930. Aber nicht etwa wie ein Lexikon, trocken, als Gebrauchsgegenstand und Regalschmeichler, sondern auf so fesselnde Art, dass man sich fast selbst in der Geschichte und ihren Protagonisten wähnt.

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Mit Rolf Vollmann kann man abtauchen in die Welt der Fiktion einerseits, aber auch in die ganz reale Literaturgeschichte andererseits. Chronologisch von 1800 bis 1930 ist jedem Jahr ein Kapitel gewidmet, das die wichtigsten Entwicklungen, Neuerscheinungen, Geburten und Todesfälle auf so brilliante Weise zusammenfasst, dass sich dieses Buch über Bücher und das Lesen schon selbst wie ein Roman liest. Man kann sich in diesen Kosmos versenken, selbst in den zahlreichen Fußnoten finden sich noch Querverweise zu anderen literarischen Texten, dieser ,Romanverführer’ ist ein bibliophiles Perpetuum mobile. Ein kulturgeschichtliches Spiegelkabinett.

Klaus Walther widmet sich in ,Was soll man lesen‘ der Frage aller Fragen eher in kleinen, thematisch abgeschlossenen Texten. Vorangestellt natürlich einige Gedanken zur Kanonisierung von Literatur, die nicht nur in Schulen regelmäßig Grund für geistige Ausschreitungen ist. Was MUSS man denn nun lesen? MUSS man überhaupt lesen?

Große Leser bwundere ich: Da erfahre ich aus den Tagebüchern Ernst Jüngers, dass er zum vierten Mal eine Ganzlesung der Bibel abgeschlossen hat. Der Engländer W.S. Maugham erzählt über seine Lektüre des Don Quixote: ,…ich selbst habe es fünfmal ganz gelesen, zweimal auf Englisch und dreimal auf Spanisch.’

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Wir gelangen in diesem Exkurs der Detektivgeschichte von Edgar Allan Poe zu Arthur Conan Doyle, von Dashiel Hammett zu Simenon und Dick Francis. Klaus Walther gelingt es in einem relativ schmalen Buch mal eben die Geschichte der Literatur zu durchstreifen, persönliche Vorlieben zu benennen und die Lust auf eigene Entdeckungen zu wecken. In diesem Leseverführer steckt eine große Fülle an Informationen nicht nur das Lesen und die Literatur betreffend, – es verdeutlicht auch besonders anschaulich, wie eng Literatur mit der vorherrschenden Kultur verflochten ist. Wir können ein Buch nicht abseits seiner Zeit betrachten. Umso mehr juckt es einem in den Fingern – oder sollte man in den Augen sagen? -, mit diesen Büchern das Lesen und Literatur zu entdecken. Immer wieder aufs Neue. Ein Blick rückwärts lohnt sich! Gelegentliche Rückwärtsgewandtheit erleichtert das Vorwärtsgehen.

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  1. Pingback: Schreibweisen | Literaturgefluester

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