Twittern bei der nächsten Lesung

Vom Erfolg der literarischen Live-Stream-Formate

An diesem Montagabend, dem 20. August, wenn schönes Wetter ist, dann wird sich Markus Heitz vor ein Münchner Gartenhaus setzen und ein Buch lesen. Und zwar laut, vor ein paar Zuhörern, die sich zu seiner Lesung eingefunden haben.

Es werden eingefleischte Fantasy-Fans da sein, denn bei Heitz’ neuem Roman “Dunkle Pfade” handelt es sich um den dritten Teil der “Legenden der Albae”-Serie, von der die beiden ersten Bände in den Bestsellerlisten der Online-Buchläden stehen. “Die Albae warten in einem vergessenen Reich auf den Moment”, heißt es in der Ankündigung des dritten Bandes, “um in das Geborgene Land zurückkehren zu können. Die entscheidende Schlacht naht. Und an einem gefährlichen unterirdischen Ort treffen sie auf einen Zwerg, der sich Tungdil nennt.”

Wenn Heitz erzählen wird, was mit dem Zwerg passiert, sitzen die Zuhörer nicht nur um ihm herum. Wenn das Wetter nicht allzu schön wird, sitzen noch ein paar hundert andere vor ihren Computerbildschirmen zuhause. Sie hören und sehen dann den Autor und seine Stimme per Live-Stream. Den empfangen sie über die Internetseiten von Lovelybooks.

“Erzähle uns, wie es Dir gefallen hat”

Für die 2006 gegründete Literaturcommunity gehört so eine Lesung zu einem ausdifferenzierten Serviceprogramm, an dem teilhaben kann, wer mit zwei, drei Einträgen auf einem Online-Formular Mitglied geworden ist. Hier trifft man dann lauter Leserinnen und Leser, die nicht nur zeigen wollen, dass sie Bücher lieben. Sie wollen auch mit anderen Bücherliebhabern über ihre Neigungen sprechen. Da nutzt man die Vorteile des Internet, auch wenn man sonst nur bei Gedrucktem und Gebundenem in Stimmung kommt.

Die Mitglieder üben sich in klassischen Rezensionen. Sie empfehlen und verreißen Bücher, so wie es ihre entfernten Vorbilder in den Zeitungen und den dritten Fernsehprogrammen tun. Oder sie geben Stimmungsberichte von ihren Lektüren. Dafür melden sie sich in Lesegruppen und Lesekreisen an. “Liest Du gerade ein interessantes Buch?”, heißt es zur Begrüßung bei Lovelybooks. “Dann stelle es gleich in Dein LovelyBooks Buchregal und erzähle uns, wie es Dir gefallen hat.”

Die klassischen Literaturkritiker haben mit Unbehagen festgestellt, dass sich in Foren dieser Art eine neue Form der Auseinandersetzung mit Literatur etabliert, die nicht nur viel mehr Leser erreicht als die klassische Rezension, sondern offensichtlich auch viel überzeugender wirkt. Während die Literaturseiten der Zeitungen den Eindruck machen, immer mehr zu Nischen für jene Nerds zu werden, die noch an eine faktisch längst aufgelöste literarische Öffentlichkeit glauben, haben sich in den Literaturcommunitys die Nischen zu veritablen Szenen und Milieus weiterentwickelt.

Um die Mitglieder, die dort für ihre Rezensionen und ihre Kommentare die meisten Klicks bekommen, buhlen die Verlage deshalb mehr als um den Literaturredakteur einer Großstadtzeitung. Denn tatsächlich lässt sich in den Netzwerken zielgenau jenes Marktsegment erreichen, das “Kernleserschaft” genannt wird. Dass Lovelybooks zur Holtzbrink-Gruppe gehört, ist kein Zufall. Dass von jedem Buchhinweis in der Community ein Link zum nächsten Online-Buchladen läuft, natürlich auch nicht.

Der Live-Stream als Teil des Marketings 

So profiliert sich in diesen Foren eine nächste literarische Kultur. Auch wenn der Hochkultur-Literaturbetrieb es offiziell nicht wahrhaben will. Dass sich ausgerechnet in diesem Abseits die Livestream-Lesung als Format entwickelt, ist deshalb nicht weiter verwunderlich. Hier denkt man eben anders als in den Literaturhäusern, den Literaturbüros oder den anderen Einrichtungen, in denen regelmäßig Autoren vor Publikum lesen.

Die Macher der Communitys stehen sich nicht mit lauter Zweifeln im Weg, wenn es um die Frage geht, wie sich die neuen Medien nutzen lassen. Sie probieren alles aus, was das Set an Serviceleistungen sinnvoll erweitern könnte.

Bei Lovelybooks kann man deshalb beim Live-Stream nicht nur der Lesung beiwohnen. Man kann sie auch kommentieren, während sie läuft. Anschließend darf man Fragen per Facebook und Twitter stellen, die ebenso live beantwortet werden.

Karla Paul, die in der Münchener Redaktion von Lovelybooks arbeitet, weiß, dass genau das die Aufmerksamkeit bindet. “Bei bekannteren Autoren hatten wir auch schon tausend oder zweitausend Leute dabei”, berichtet sie. “Manchmal müssen sie auch nur telegen sein und einen guten Auftritt hinlegen – schon verbreiten die Zuhörer über Twitter, dass es sich lohnt, dabei zu sein. Dann steigen die Teilnehmerzahlen.”

Für Verlage sind solche Rückmeldungen attraktiv. Bis zu 3.500 Euro zahlen sie an das Produktionsteam, mit dem Lovelybooks eine Lesung live ins Netz überträgt und danach ein Video daraus macht, das sich auch über Youtube abrufen lässt. “Das ist natürlich Teil des Marketings”, sagt Karla Paul. “Die Verlage bekommen ja einen echten Clip, mit dem sie nicht nur live, sondern auch noch lange danach Werbung für die Bücher und ihre Autoren machen können.”

Mit Live-Stream allein lässt sich nichts verdienen

Dafür sendet Lovelybooks aus dem eigenen Gartenhäuschen in München. Das Team reist aber auf Bestellung auch an andere Orte. Einzige Bedingung für Paul: “Ein gut funktionierendes Internet. Sonst geht gar nichts.” In Schottland waren sie schon für das Alternate Reality Game eines Verlags. Sie waren auch in Spanien. Sie haben aus Kellern und Wohnzimmern übertragen. Auch in einer Sauna waren sie schon. Wer vor Ort dabei sein will, darf umsonst rein. “Denn”, sagt Karla Paul, “die Autoren sitzen natürlich nicht gern allein da und lesen in die Kamera. Es ist gut, wenn vor Ort auch eine gute Atmosphäre ist.”

Die Livestream-Lesung hat schon viele Nachahmer gefunden. Nicht zuletzt beim Fernsehen, wo etwa die alljährliche Bachmannpreis-Lesungen nicht nur ins TV, sondern immer auch gleich ins Netz eingespeist werden. Bei Lovelybooks aber kennt man die Probleme, die alle bekommen, die etwas Ähnliches versuchen, ohne auf das Geld und die Manpower der öffentlich-rechtlichen Sender zurückgreifen zu können: “Es ist sehr aufwendig, wenn man es gut machen will. Also ist es teuer. Und wenn immer mehr Lesungen übertragen werden, heißt das ja nicht, dass auch das Publikum automatisch größer wird.” Dass Leute an ihrem Rechner sitzen und für den Live-Stream der Lesung eines Top-Bestseller-Autors richtig zahlen, hält Paul jedenfalls für unwahrscheinlich.

Ab wann der Live-Stream wirklich strömen wird

So funktioniert die Livestream-Lesung im Moment nur in jenen viel größeren Paketen von Serviceangeboten, wie sie von den Literaturcommunitys im Netz bereitgestellt werden. Hier kann man sich eben auf die “Kernleserschaft” verlassen, die auch twittern und auf Facebook kommentieren darf, um dann hinterher in der Lesegruppe zu diskutieren und sich auf der eigenen Profilseite als bewundernswerte Premium-Leser oder Premium-Leserin zu präsentieren.

Das wird sich vielleicht ändern, wenn das Streamen von Bildern in den nächsten Jahren einfacher und billiger wird.

* Vor allem wird es sich ändern, wenn es von jenen Autoren entdeckt wird, die sich selbst ihr Publikum aufbauen müssen, weil es ihr Verlag nicht tut und ihr Buch allein es nicht leisten kann.

* Wohl werden sich auch die Buchhändler, die Programmleiter von Verlagen, Literaturhäusern und Festivals dafür interessieren, wenn sie begreifen, dass der Stream die Möglichkeit gibt, sich selbst zu bewerben und eine Community aufzubauen und zu pflegen, die nicht nur an den Lesungsabenden zusammenkommt.

* Nicht zuletzt wartet das Streamen auf Autoren und Literaturvermittler, die darin die Möglichkeit sehen, neue Performances auszuprobieren.

Geld kann man dann immer noch nicht verdienen. Aber es lässt sich das Verständnis vom literarischen Werk zum transmedialen Storytelling erweitern, zu dem nicht nur ein gedruckter Text gehört, sondern auch der richtige Auftritt im Netz.

Zur Avantgarde bei der Entwicklung solcher Formate werden dabei ausgerechnet jene Communitys, über die der auf Hochkultur abonnierte Literaturbetrieb die Nase rümpft. Wer aber etwas von den Bedingungen und Möglichkeiten der nächsten Literatur verstehen will, sollte sich deshalb auch in diesen Netzwerken tummeln. Das gilt für Autoren genauso, wie es für Literaturvermittler gilt. Für die “Kernleserschaft” gilt es ohnehin. Allerdings hat die das schon längst begriffen.