Fiktion, fiktiv
Vor ein paar Jahren erfahre ich bei einem Gespräch im Treppenhaus, dass meine Pankower Wohnungsnachbarin gerade ihren ersten Roman geschrieben hat. Ich weiß von Marias lustig-frechen Artikeln für die Berliner Zeitung, und sie interessieren mich nicht sonderlich. Dennoch biete ich an, den Roman zu lesen. Ich bin als Schriftsteller nicht so erfolgreich, dass ich ständig mit unveröffentlichten Manuskripten belästigt werde, und war lange genug vom Literaturbetrieb isoliert, um nun anderen bei ihrem ersten Buch helfen zu wollen. Sei es nur, indem ich ihnen offen sage, wie wenig ihre Texte taugen.
Marias Roman aber ist alles andere als schlecht. Er ist der beste neue deutschsprachige Roman, den ich seit Jahren gelesen habe. Die Geschichte spielt rund um den Alexanderplatz. Es gibt einen Anwalt, der sich mit den dubiosen Aufträgen eines Bauunternehmens über Wasser hält, einen unverbesserlichen Trotzkisten und eine alleinerziehende Mutter, in der ich Maria wiedererkenne. Das Besondere aber ist Marias Sprache. Sie ist überbordend, schnell, drastisch und hat einen ganz neuen Humor. Maria hat versucht, ein neues Berlin Alexanderplatz zu schreiben, und es ist ihr gelungen.
Als ich einen Verlag für den Roman gefunden habe, will ihn Maria noch einmal überarbeiten. Sie will Distanz in die Geschichte bringen und macht sie leblos. Doch es gibt kein Zurück mehr zur ersten Fassung. Sie hat kein Back-up erstellt, sie nie als Email versandt. Und auch der eine Ausdruck, den sie erst mir und dann dem Verlag gegeben hat, ist weg. Als ich davon erfahre, bin ich schockiert. Doch Maria wirkt gelassen. Sie arbeite jetzt als Kellnerin, und jeder Tag sei voller eindringlicher Erlebnisse. Ihre Literatur aber sei im Grunde überflüssig, denn sie werde niemals so etwas Wichtiges wie Dostojewski oder die Bibel schreiben. Und ja, wahrscheinlich hat sie recht. Aber was ist das auch für ein vermessener Anspruch?
Würde man die namhaften deutschen Literaturkritiker fragen, ob die neuen deutschsprachigen Titel, die sie in den letzten Jahren mit großen Worten gelobt haben, in ihrer Bedeutung an die großen Romane von Dostojewski, Melville, Joyce, Musil, Kafka, Kleist oder Döblin heranreichen, würden sie das wohl in den allermeisten, wenn nicht allen Fällen verneinen. Wenn sie sich denn überhaupt auf eine Antwort einlassen würden. Wahrscheinlich würden sie sagen, dass man so etwas überhaupt erst im Nachhinein sagen könne. Vor allem aber, dass die Zeiten sich nun einmal geändert hätten. Literatur müsse heute mit vielen anderen Medien um Aufmerksamkeit konkurrieren und Balzac würde heute statt Fortsetzungsromanen TV-Serien schreiben.
Das ist sicher alles richtig. Aber ist es unumstößlich? Kann heute wirklich keine Literatur mehr geschrieben und veröffentlicht werden, die nicht bloß vorhandende Standards erfüllt, sondern bei deren Lektüre sich im Gehirn etwas maßgeblich neu verschalten kann – wie noch niemals zuvor in irgendeinem Gehirn?
Das deutsche Fördersystem mit Stipendien und Preisen einerseits und engagierten Verlagen andererseits konnte den Bedeutungsverlust der hiesigen Literatur nicht aufhalten. Weil Literatur als Medium gegenüber Film, Computerspiel oder Fernsehserie einfach obsolet geworden ist? Aber noch immer kann kann kein anderes narratives Medium mit der technischen Einfachheit des Schreibens konkurrieren. So liegen besonderen Filmen auch heute häufig großartige Romane zugrunde – nur sind es in der Regel amerikanische oder britische, aber keine in kleineren Sprachen wie der deutschen geschriebene. Anders als eindeutig funktionale Texte wird sich anspruchsvolle Literatur auch in den nächsten Jahren noch nicht automatisiert übersetzen lassen.
Das Ebook bietet deutschsprachigen Verlagen die Möglichkeit, die Romane ihrer heimischen Autoren weltweit in verschiedenen Übersetzungen selbst zu vertreiben. Neue digitale Buchformate könnten das Lesen noch einmal neu formieren. Wenn die bestehenden Verlage es nicht tun, dann ist es an uns Autoren, uns dieser Herausforderungen anzunehmen. Dafür plane ich gemeinsam mit dem Autor und Lektor Mathias Gatza das Modellprojekt FIKTION, das großartige, in den bestehenden Verlagen keinen Platz findende Literatur simultan auf deutsch und auf englisch veröffentlicht. Wer immer Ideen hat, wie uns zu helfen ist – bitte melden!