Gentle Reader
Im Zusammenhang mit der Digitalisierung wird immer nach neuen Formen gefragt. Ich glaube, diese Frage ist falsch gestellt. Wenn eine neue Erzählform entsteht, die dem Vorhandenen wenig ähnelt und auch von ganz anderen Leuten hervorgebracht wird als den bisherigen, zählt man sie nicht zur Literatur, sondern nennt sie beispielsweise “Film” oder “Computerspiel”. Ähnelt sie aber dem Vorhandenen, gähnen alle und sagen, das sei ja nun wirklich kein großer Unterschied. Die eigentlich interessanten Veränderungen finden da statt, wo nicht die Inhalte oder Formate, sondern die Rahmenbedingungen in Bewegung geraten.
Es gibt viele Strukturen rund um Verlage, Vertriebsstrukturen und Autoren, bei denen das gerade der Fall ist. Ich möchte nur eine davon herausgreifen. Autoren haben bisher sehr stark für die hauptberuflichen Lektoren und Rezensenten geschrieben, weniger für den Leser – notgedrungen; man hatte ja kaum Möglichkeiten, herauszufinden, wer diese Leser eigentlich waren. Der Autor Seth Godin begründete 2010 in seinem Blog, warum er keine Bücher mehr auf dem herkömmlichen Weg veröffentlichen wollte: “It took a year or so, but I finally figured out that my customer wasn’t the reader or the book buyer, it was the publisher.” Wenn der Lektor sein Buch nicht mochte, wurde das Buch eben nicht gemacht. “Ich hatte die Lektoren sehr gern als Kunden. Das sind kluge, motivierte, ausgesprochen nette Leute, die sich gern mit dir darüber unterhalten, was sie wollen und woran sie glauben. Sehr angenehme Kundschaft.” Lektoren und Verleger stehen dem Autor sehr nahe, es ist nicht schwer, sie zu mögen. Leser aber sind den Autoren schon viel weniger ähnlich und nicht immer so, wie Autoren sie gern hätten. Darum nehmen viele Autoren ungern Leserkontakt auf und ziehen sich mit Ausreden aus der Affäre, wenn mehr als nur ein vierteljährlich aktualisiertes Blog mit abgeschalteter Kommentarfunktion von ihnen verlangt wird.
Meinem Lösungsvorschlag liegen drei Annahmen zugrunde: Erstens müssen Autoren mehr direkten Leserkontakt pflegen. Das kann ihnen niemand abnehmen, weder der Verlag noch das, was in Zukunft an die Stelle der bisherigen Verlage treten wird. Zweitens scheuen die Autoren diesen Leserkontakt mit verschiedenen Begründungen. Sie tun das nicht nur, weil sie sich nicht genug für das Internet interessieren (obwohl das natürlich auch der Fall ist), sondern weil Kommunikation anstrengend ist, eine Herausforderung selbst dann, wenn gerade mal nichts schiefgeht. Die dritte Annahme: Autoren scheuen gar nicht wirklich den Kontakt zum Leser, sie mögen nur die realen Leser nicht. Reale Leser entsprechen nicht immer den Attraktivitätsvorstellungen des Autors, und sie teilen nicht alle seine Ansichten.
Was fehlt, ist ein Tool, das dem Autor die vorhandenen Leser attraktiver erscheinen lässt. Früher schrieb man für einen imaginären sympathischen Leser. Mit diesem Tool ist das immer noch so, nur eben mit anderen technischen Mitteln. Google zeigt einem auch andere Suchergebnisse je nach persönlichen Präferenzen, also warum nicht auch eine personalisiert geschönte Ansicht?
Das hat nichts mit dem Kaufen von Fake-Facebookfans oder Twitterfollowern zu tun, denn die leistet man sich ja, damit alle anderen sehen, was man für ein erfolgreicher Socialmediahecht ist. Gentle Reader verändert die Ansicht nur für den Autor selbst; für alle anderen sieht die Welt immer noch normal aus, das lässt sich relativ leicht über ein Browser-Plugin oder einen Proxy-Server lösen. Es gibt Gentle Reader in verschiedenen Ausbaustufen, angefangen mit einem leichten Weichzeichnereffekt: Alle, die sich zum Buch äußern, bekommen attraktivere Profilbilder je nach den individuellen Vorlieben des Autors. In einem nächsten Schritt werden Kommentare und Rezensionen unter Zuhilfenahme eines Textverschönerungsalgorithmus leicht gekämmt. Wer sich gern unter Zuhilfenahme altgriechischer Bildungszitate und -Vergleiche rezensieren lässt, der bekommt genau das. Im nächsten Schritt – natürlich sind alle diese Optionen kostenpflichtig – scharen sich die Fans bei Goodreads, Librarything und Shelfari um den Autor, außerdem schmücken sie sein Twitter- und sein Facebookdasein mit unermüdlichem Zuspruch. Sie stellen Zitate aus dem Werk des Autors bei quote.fm ein, markieren öffentliche Kindle-Highlights und zieren ihre E-Mail-Signatur oder Twitterbio mit seinen Worten. Eine weitere Option: Leserdarsteller befreien das E-Book vom Kopierschutz oder stellen, wenn es gar kein E-Book gibt, eine sorgfältig gesetzte Fassung in allen wichtigen E-Book-Formaten her – schöner als das Original und von allen Tippfehlern der Druckausgabe befreit –, die sie in Tauschbörsen hochladen, um so populäres Interesse am Buch zu simulieren. Für Autoren mit strikten Kopierschutzansichten ist der Service derselbe, die Leserdarsteller verkünden aber öffentlich, dass sie außerdem auch noch “das Hardcover, das Taschenbuch, das E-Book und die koreanische Übersetzung” besitzen, um sich keine Ausgabe des hervorragenden Werks entgehen zu lassen.
Autoren, die Nägel mit Köpfen machen wollen, können vom Premium-Paket Gebrauch machen. Es ist etwas teurer, weil es den persönlichen Einsatz kompetenter freier Mitarbeiter des Unternehmens erfordert. In unvorhersehbaren Abständen, aber nicht seltener als einmal pro Monat sitzt dem Autor in einem öffentlichen Verkehrsmittel oder im Café jemand gegenüber, der eins seiner Bücher liest, kichernd oder ergriffen, je nachdem.
Lesungen sind nicht selten eine Qual für alle Beteiligten, dabei gleichzeitig oft hochsubventioniert. Warum also nicht einen Teil der Gelder direkt ans Publikum ausschütten? Gleichzeitig würde damit das Problem behoben, dass gerade den am stärksten subventionierten Literaturveranstaltungen oft das Publikum fehlt. Attraktive Leserdarsteller und -innen bleiben während der Lesung wach, ohne von ihren Smartphones Gebrauch zu machen und stellen nach der Lesung qualifizierte Fragen, in denen das gelesene Werk mit entlegenen Stellen aus Werken der Lieblingsautoren des Verfassers verglichen wird. Nach dem Fragenstellen wird ein gründlich zerlesenes eigenes Exemplar zusammen mit vier weiteren “zum Verschenken” zum Signiertisch getragen. In der Luxusoption “Misery” wird der Autor von Leserdarstellern entführt, ans Bett gefesselt und gezwungen, Fortsetzungen seiner Romane zu schreiben.
Weitere Vorteile des Verfahrens: Autoren brauchen den ausgedachten, idealen Leser auch, um sich zur Arbeit zu motivieren – eine Aufgabe, die bisher mittels Vorschuss und Deadline vom Verlag erledigt wurden. Sobald diese Verlagsleistungen wegfallen, ist der Autor ganz auf seine Leser angewiesen, und wer weiß, ob die realen Leser diese für den Fortbestand des Autorenberufs zentrale Aufgabe gewissenhaft genug erfüllen. Auch werden viele buchbranchennahe Berufe durch Digitalisierung und Internet wegfallen. Gentle Reader schafft zum Ausgleich einige neue Tätigkeiten. Der Beruf des Leserdarstellers ist insbesondere für Autoren interessant, weil viele von ihnen dafür ausgezeichnet qualifiziert sind, und weil sie z.B. durch den bezahlten Besuch von Lesungen das Geld einnehmen können, das sie zur Finanzierung ihrer eigenen Bücher brauchen – insbesondere natürlich für das Abhalten eigener Lesungen. Alles in allem ein geschlossener Finanzierungskreislauf, so ähnlich wie ja auch bei den ganzen Etsy-Frauen, die gegenseitig ihren selbstgebastelten Schmuck kaufen. Man braucht lediglich eine gewisse Anschubfinanzierung etwa von der Kulturstiftung des Bundes oder den Literaturhäusern.
Hier können Sie Kathrin Passigs Präsentation beim LitFlow-Thinktank anhören.
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