Roggenbucks Revolutionen

Neun Hinweise für die nächsten Autoren

Steve Roggenbucks Biographie liest sich wie die eines klassischen amerikanischen Dichters. Das “Master of Fine Arts”-Studium hat er abgebrochen, den ersten Lyrikband selbst gedruckt und geheftet, jetzt reist er ohne Geld durch die USA und schläft auf den Sofas von Bekannten.

So weit, so Literaturkitsch. Doch Steve Roggenbuck macht etwas ganz anderes. Er aktualisiert den Typus des “American Poet” als Selfmademan. Er folgt nicht mehr den Anforderungen der Gutenberggalaxis. Stattdessen macht er das Medium der eigenen Zeit zur Triebfeder seiner Arbeit. So wie lineare Romane in der Blüte des Buchdrucks entstanden sind, experimentiert er mit den Möglichkeiten der Produktion und Rezeption im Internet.

Wir haben Roggenbuck interviewt und geben den nächsten Autoren 9 Hinweise, was sie von ihm lernen können:

© Osy Chung

Roggenbuck lässt seine Werke die Medien wechseln. Seinen ersten Lyrik-Band “DOWNLOAD HELVETICA FOR FREE.COM”, für den er Chatprotokolle in Gedichte verwandelt hat, veröffentlichte er 2008 digital. Dazu gab es selbst produzierte Printversionen. Außerdem forderte er die Community auf, Poster der Gedichte in der Stadt zu platzieren, sie zu fotografieren und die Fotos dann ins Internet zu stellen. So wechseln seine Texte auf dem Weg durch die Netzwerke ihre Aggregatzustände.

Seine Texte publiziert Roggenbuck aber auch auf  T-Shirts und Grußpostkarten. Oder er spricht sie ein und lädt sie in seinem eigenen Literatur-Kanal bei Youtube hoch. Nebenbei betreibt Roggenbuck digitalen Aktivismus und orchestrierte mit seiner Community ein Google-Bombing, beim dem ein befreundeter Dichter mit dem Suchbegriff “2011 poet laureate” verknüpft wurde. Sein neuestes Werk heißt „Illuminati Power Hour“. Hier wird eine Mischung aus Dada-Performance, Call-in-show und literarischem Salon zu einem wöchentlichen Webbroadcast zusammengezurrt. Der Clou: Die Zuschauer können sich dank Splitscreen selbst in die Sendung einschalten. Sie sind Gäste und Publikum zugleich.

2. DAS GRENZÜBERSCHREITUNGSKONZEPT

Roggenbuck wechselt nicht nur die Medien. Er wechselt auch die Gattungen und Genres. Wollte man ihn einen Lyriker nennen, weil er mit Lyrik begonnen hat oder weil seine Texte irgendwie noch nach Lyrik aussehen, dann liegt man falsch. “Lyrik” und “Lyriker” gehören für Roggenbuck in eine Welt, die er hinter sich gelassen hat, um in der neuen etwas Neues auszuprobieren.

“i think using genre-based labels like “poet” is necessarily clumsy and ineffective, especially going forward now, and i think i know that, but i still got confused about what to do about it. i think there will be less boundaries between literature and other media, i think there will be increased role of the author as a person, i think there will be more focus on piecemeal writing–more daily or weekly updates, not as much focus on a full book every 2 years. for practical purposes i still call myself a poet, although usually i say “poet / blogger” because i appreciate the looseness of that”

3. DAS LEBENSWERKKONZEPT

Die einzelnen Werkstücke, die Roggenbuck produziert, gehören zu einem großen Ganzen. “A total work”, wie er es selbst nennt. Dieses Werk kann man auf der Webseite “livemylief.com” finden. Damit erfüllt sich Roggenbuck in einem neuen medialen Umfeld einen alten romantischen Traum. Er ist ein Künstler, der sein ganzes Leben zum Kunstwerk erklärt, es entsprechend dokumentiert und die Dokumentation selbst wieder als Teil des Werkes versteht.

“total work” is focused on the work rather than the author. a gigantic book or a gigantic web presence that uses many different formats, maybe some philosophy or journal entries along with the poetry, visual work, etc. and with the internet it could include back-and-forth conversations and video and hypertext and tons of things: you come at the ideas of the work from many different angles, in many different formats. i used Hipster Runoff (HRO) as an early model for how i’d like to build an online total work on livemylief.com. HRO has multiple content streams that are all updated frequently, and it sort of blends creative writing in with a “news” format. but over time i’ve lost interest in that model, somewhat. i think it’s most exciting for me when there is a real Person at the center of it.

4. DAS DIGITAL-FIRST-KONZEPT

Von Steve Roggenbuck gibt es keine Posts bei Facebook, in denen er das Cover eines neuen Buches annonciert. Es gibt auch keinen Blog, in dem er darauf hinweist, dass er von einer Zeitung interviewt worden ist. Während die alten Schriftstellerkollegen das Netz vor allem dafür nutzen, um ihre Printprodukte zu bewerben, publiziert Roggenbruck digital first. Statt peinliche Eigenwerbung zu betreiben, in der er sich als urheberrechtlich geschützter Autor mit Autonomie-Anspruch inszeniert, macht er seine Texte per Public Domain frei zugänglich. Jeder Leser kann die Texte verändern und weiterzuverbreiten.

“i dont like the dynamic of creating something, building up interest in it, and then putting up a pay wall. i dont want my free work to seem like an advertisement or sales pitch for the full-length book. i want to really just openly share my work.”

Steve Roggenbuck

© Steve Roggenbuck

5. DAS FOLLOWERPOWER-FINANZIERUNGSKONZEPT

Trotz dieser eigenwilligen Publikationspraxis verdient Roggenbuck mit seiner Arbeit Geld. Er finanziert sich durch Spenden seiner Follower und über den Verkauf einer ganzen Produktpalette. Hinzu kommt dann auch noch das Geld, das er über den Verkauf von Büchern verdient. Dabei gilt für Roggenbruck: ein T-Shirt mit einem guten Slogan ist ebenso viel wert wie ein kompletter Lyrikband.

„i’m mostly interested in using poetry as a vessel for aesthetics and expressing a way of life“

6. DAS INTERAKTIONSKONZEPT

“i started in 2010 connecting with like-minded people wherever i could find them. often i would comment back and forth with people i found on another writer’s page or a facebook group about dadaism, and i gradually made friends. now i get so many people coming to me because they found my videos, and i just talk back to those people. its hard to keep up now. i spend a lot of time on facebook and twitter.”

Ob auf Facebook oder Twitter, ob in seiner Talkshow oder in den Kommentaren seiner Youtube-Videos: Die Vernetzung wird nicht als Bürde und Zeitverschwendung empfunden. Die Interaktion selbst ist Teil des Kunstwerks. Und auch dabei unterscheidet er sich von alten Schriftstellerkollegen, die ihre Profile auf den Social Media-Plattformen derzeit als Möglichkeit entdecken, um vordergründig den Kontakt mit ihren Lesern zu halten, aber insgeheim nichts anderes tun, als Verkaufsgespräche zu führen. Roggenbuck kommuniziert mit anderen nicht, um ihnen ein Buch oder eine Eintrittskarte für eine Lesung anzudrehen. Es gibt kein “um-zu” dieser Interaktionen. Und es gibt kein Jenseits der Kommunikation, in dem dann die vermeintlich echten Geschäfte abgewickelt werden.

„i feel great fulfillment when i’m really in sync with my community. interacting with my community is the most fulfilling part of my work.

7. DAS PERSONAL-BRAND-KONZEPT

Steve Roggenbuck erweitert das Verständnis vom Autor nicht nur über die direkte Interaktion mit der Community. Er sieht seine verschiedenen eigenen Aktionen als Teil eines größeren Schreibzusammenhangs, in dem er niemals aufhört, ein Künstler zu sein. Es ist egal, ob er ein Gedicht schreibt, als Social Media-Charakter scheinbar belanglose Posts sendet oder Mails und SMS eintippt. Integriert wird alles über die Kultmarke, die er mit seinem ganzen Leben verkörpert.

 “it doesn’t matter to me, they are doing the same thing in my opinion. they exist to express myself and a way of living and to boost other people. i’m moving toward an idea of the Person as the artform, or i might say the Personal Brand as the artform. (some people are averse to the label “brand” because of business connotations, but i like “brand” because it’s holistic, and it feels post-ironic to me anyway.) this comes out in my online presence in a lot of ways. when i post a picture of myself or do a broadcast where i just interact for a few hours, it might seem totally unrelated to “poetry” as such, and maybe it is, but people seem to get value from it, and i can relate.“

8. DAS GEGENWARTS-KONZEPT

Roggenbuck verfasst auf “livemylief.com” Essays und Manifeste, in denen er sein literarisches Programm entwickelt und im Medienkontext reflektiert. Auf seinem Videoblog diskutiert er moderne Lyrik und Netzphänomene. Er tritt auf Konferenzen als Redner auf. Im Gegensatz zu sogenannten Gegenwartsautoren arbeitet er damit durch seine ästhetische Praxis hindurch an dem stringenten Konzept einer wirklichen Gegenwartsliteratur.

Noch stärker als an dieser theoretischen Arbeit erkennt man aber Roggenbucks Kunst als eine, die auf der Höhe der Zeit ist. Roggenbucks Arbeiten sind gegenwarts- und zukunftsorientiert, statt vergangenheitsfixiert. Ob in seinem ersten Lyrikband oder in von ihm verbreiteten Meme (siehe nebenstehendes Bild) – der Einfluss des Netzes auf die Wahrnehmung und den Produktionsprozess der Kunst wird bei ihm zum ästhetischen Programm.

© Steve Roggenbuck

9. DAS FLÜCHTIGKEITS-KONZEPT

Roggenbuck kann sich den Trash, die hohe Produktionsgeschwindigkeit, das Experiment erlauben. Ein Flop – genauso wie ein Hit – wird bei ihm gleich durch die nächste Idee, den nächsten Text, die nächste Aktion verdrängt. Mit “Livemylief.com” macht Roggenbuck sein Leben zum Content-Stream. Oder, wie er selbst sagen würde: “my heart is like a thousand subdomains on the same website”.

Vielleicht ist Roggenbuck auch nur ein Meme, das einmal kurz im Netz aufflackert, um dann wieder vom nächsten Dichter ersetzt zu werden. Es ist diese Orientierung am Nächsten, die der Aufmerksamkeitsökonomie des Netzes am Besten entspricht, die Roggenbuck gerade jetzt so interessant macht.