Nichts fällt Anhängern der gedruckten Zeitung so schwer wie sich vorzustellen, eines Tages Nachrichten nicht mehr auf Papier sondern auf anderen Wegen zu beziehen. Sie vergessen, wie anpassungsfähig der Mensch ist.
Die gedruckte Tageszeitung gehört zu dem Segment der Printprodukte, das am deutlichsten von den Folgen der Digitalisierung betroffen ist. Schon jetzt gehen Werbeeinnahmen und Auflagen deutlich zurück, besonders in den USA, aber auch in Deutschland. Spätestens seit der Insolvenz der Frankfurter Rundschau sowie dem Ende der Financial Times Deutschland erkennen selbst die größten Print-Verteidiger in Deutschland, dass gedruckte Nachrichten vor einer unsicheren Zukunft stehen. Zumal das letzte tagesaktuelle Zeitungsprodukt auf Papier nicht erst verschwinden wird, wenn der allerletzte Leser sich von dem Medium verabschiedet, sondern deutlich früher. Spätestens dann, wenn der Auflagen- und Umsatzrückgang ein Niveau erreicht hat, bei dem die traditionell mit der Produktion von Zeitungen verbundenen hohen Fixkosten die Herstellung wirtschaftlich unattraktiv machen.
Erläutert man diesen einfachen ökonomischen Regeln folgenden Sachverhalt, melden sich meist Freunde der Printmedien zu Wort, die nicht verstehen können, wieso Digitalapologeten ihnen ihre geliebte Zeitung abspenstig machen möchten. "Ich will aber auch in Zukunft morgens meine Zeitung zum Frühstück haben", so das Zitat des früheren ARD-Chefs Hartmann von der Tann ( via ), und so ähnlich hat man es schon hunderte Male zuvor gehört. Besitzt man ein wenig Empathie, dann kann man diese Haltung auch durchaus verstehen. Sich am Küchentisch oder auf dem Sofa zum morgendlichen Kaffee über die Geschehnisse des vergangen Tages zu informieren, ist nicht nur ein von vielen Lesern über Jahrzehnte praktiziertes Ritual, sondern macht Spaß und hilft dabei, vor den mitunter stressigen Aufgaben des Tages eine halbe Stunde Ruhe zu genießen. Freilich ist dieses Szenario ein wenig romantisierend - Millionen Menschen haben maximal in den öffentlichen Verkehrsmitteln auf dem Weg zur Arbeit Zeit, sich ihrer Zeitung zu widmen, und kämpfen sich dann damit ab, beim Blättern ihren Sitznachbarn möglichst nicht zu sehr in die Quere zu kommen. Aber in jedem Fall gibt es einen Grund, warum sich nicht nur die vom Printsterben betroffenen Verlage und ihre Angestellten lautstark und emotional für die Tageszeitung einsetzen, sondern auch die überzeugten Leser, welche besorgt darüber sind, eines Morgens plötzlich ihr Stammblatt nicht mehr im Briefkasten vorzufinden und ihr Frühstück ohne das kompakte Nachrichtenbündel auf Papier einnehmen zu müssen.
Diese Sorge ist verständlich. Aber unbegründet. Denn einen entscheidenden Aspekt blenden die Anhänger der Tageszeitung völlig aus: Der Wunsch nach einer Papierzeitung ist kein angeborenes Bedürfnis, ohne dessen Erfüllung sie den Rest ihres Lebens unglücklich wären. So schwer sich leidenschaftliche Zeitungsleser dies auch vorstellen können: Nach einer kurzen Zeit der Abstinenz würden sie sich an diesen Zustand gewöhnen, so wie sich der Mensch an alle neuen Lebensssituationen anpasst. Es gehört zu den Stärken des Menschen, sich nach einer kurzen Umgewöhnungsphase mit jedem neuen Umstand zu arrangieren, sei es mit neuen Technologien oder neuen gesellschaftlichen oder politischen Zuständen. Gleichzeitig ist es eine menschliche Schwäche, diese Charaktereigenschaft unaufhörlich zu vergessen. Eine Angst vor Veränderung ist die Folge.
Ich selbst war einmal ein großer Fan der Papierzeitung. Während meines Studiums zwischen 2003 und 2006 hatte ich zeitweise die Berliner Zeitung abonniert und genoss es, mich mit einem Käffchen in der Hand und den Füßen auf dem Heizkörper zu entspannen und in das Weltgeschehen einzutauchen. Auch damals gab es natürlich schon das Internet und einschlägige Nachrichtensites. Aber wie heute stellten die Zeitungen nur einen Bruchteil ihrer Printinhalte auch online, zudem war das lange Lesen auf meinem PC-Bildschirm bei weitem nicht so entspannend wie das Schmökern in der Papierzeitung. Insofern war es für mich relativ selbstverständlich, das Geld für das Studentenabo aufzubringen, um eine vernünftige "User Experience" zu erleben.
Gestern verbrachte ich das erste Mal seit Jahren wieder eine längere Zeit mit einer Tageszeitung (ein Gratisexemplar). Die User Experience ist noch immer die gleiche wie anno 2005. Die Qualität und der Komfort des digitalen Medienkonsums jedoch ist seitdem massiv gestiegen. Maßgeblich seit dem Aufkommen des Tablets. Kurz nach dem Markstart des iPad im Frühjahr 2010 legte ich mir ein Apple-Tablet zu und möchte es, wie ich bereits in einem früheren Beitrag erläuterte, nicht mehr missen. Seitdem ich weiß, wie angenehm, elegant und handlich der Abruf von Informationen ablaufen kann, fühlt sich die Papierzeitung mit ihrem sperrigen Format, ihrer statischen Darstellungsweise und - für mich ein ganz besonderer Nachteil - ihrer Spuren an den Fingern hinterlassenden Druckerschwärze - an wie ein Überbleibsel aus einer fernen Vergangenheit. Als ich gestern das Printprodukt in der Hand hielt, erkannte ich, wie überlegen der digitale Medienkonsum aus Konsumentensicht heute dank Tablets bereits ist. Die Rückkehr zur Tageszeitung wäre als Schritt für mich heute vergleichbar mit der Wiedereinführung der Dampflok oder des Zeppelins.
Ich schreibe diese Zeilen nicht als Aufruf an alle Papierfreunde, sofort zum digitalen Medienkonsum zu wechseln. Solange es tagesaktuelle Nachrichten in gedruckter Form gibt, sollen Anhänger dieses Verfahrens gerne davon Gebrauch machen. Zudem existieren nach wie vor allerlei ungelöste Fragen rund um künftige Geschäftsmodelle und die Refinanzierung von gutem Journalismus. Wer die vollständigen Zeitungsinhalte digital beansprucht, der muss häufig auf das jeweilige E-Paper ausweichen - das zwar immerhin die Finger nicht schwarz färbt und auf tragbaren Geräten gelesen werden kann, aber konzeptionell natürlich keinen großen Fortschritt im Vergleich zur Papierzeitung darstellt.
Nein, ich möchte lediglich auf die immer gerne ignorierte Tatsache aufmerksam machen, dass die Tageszeitung zum Frühstück nicht unersetzlich ist, und darauf, dass die Hardliner unter den Printbefürwortern nicht ihre eigene Anpassungsfähigkeit unterschätzen sollen. Richtig, sie wollen ja bei der Zeitung gar nicht vom Papier zum Digitalen wechseln, schon klar. Aber sollte dieser Tag einmal kommen, dann garantiere ich, dass nach spätestens einigen Wochen des Vermissens ein mindestens adäquater Ersatz gefunden sein wird. Für Gewohnheitstiere und Traditionalisten wird diese Übergangs- beziehungsweise Zwischenphase schwierig sein, weshalb sie die Printzeitung so lange lesen werden, wie sie noch aus der Druckmaschine kommt. Das ist völlig in Ordnung. Aber sollte damit irgendwann Schluss sein - und nach meiner Beurteilung wird irgendwann damit Schluss sein - dann geht damit nicht die Welt unter. Selbst wenn es aus heutiger Sicht so grausam klingen mag, morgens nicht mehr gedruckte Nachrichten lesen zu können.
(Foto: stock.xchng, lusi )