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* Christian Uetz: Nur Du, und nur Ich. Roman in sieben Schritten.
* Ricardo Piglia: Ins Weiße zielen.
 

Christian Uetz: Nur Du, und nur Ich. Roman in sieben Schritten.

Berlin/Zürich: Secession Verlag 2011, 104 Seiten.

Der Schweizer Christian Uetz ist bekannt für seine wortschöpferische Sprachgewalt und seine Live-Auftritte als Lyriker. Nun hat er seinen ersten Roman geschrieben Nur du, und nur ich - ein sprachliches Feuerwerk, eine Hommage an die Liebe, eine liebende Hingabe an die Sprache.

Das, woraus andere Liebesromane bestehen, lässt Uetz weg: Man weiß nicht, wie sie aussieht, man weiß nicht, wie er aussieht. Unklar ist, wovon die beiden leben oder wie ihre Wohnungen eingerichtet sind.

Gleichzeitig geschieht, was immer geschieht: Ein Mann und eine Frau treffen sich, nähern sich an. Dann stockt es plötzlich. Weil sich die beiden zwar wollen, aber nicht brauchen. Weil Freiheit und der Traum von der Liebe wichtiger geworden sind als die Liebe selbst. So bleiben sie jeder für sich, Singles in Reinform, stachelige Einzelgänger, die ihren Sicherheitsabstand wahren. Es bleibt die "Unspontaneität des ungetanzten Tanzes".

"Und weißt du, ich ertrage eh keine Gewohnheit, ganz schlimm, jeder Alltag macht mich sofort krank. Drum brech' ich auch jeden Job nach Kürze wieder ab und fange etwas Neues an und mache meistens nichts. Und wozu auch die Träume verwirklichen, wenn das Träumen schon mehr ist als jede Wirklichkeit?"

Sprachgewaltig, trunken vor Lust an der Sprache geht Christian Uetz in sieben Schritten der Liebe nach. Er umkreist die Liebe, philosophiert über ihre Bedingungen im Zeitalter des Spätkapitalismus, wo Geld erotisch ist und Technik stimuliert.

Die Helden des Romans sind verführt, doch anstatt diese Verführung zuzulassen, verschimmelt ihr Gefühl. Bis nach Indien reisen die beiden, doch näher kommen sie sich dabei nicht. Im Gegenteil: Das Naheliegendste rückt immer weiter in die Ferne.

104 Seiten hat dieser moderne Minnesang. Das Lied heißt "Ich liebe dich, brauche dich aber nicht". Es ist ein Drama ohne Handlung, ein Abgesang auf die Liebe in Zeiten der Ich-AG.

Liebe ist für Christian Uetz eher Dichtung als Wahrheit. Mehr ein verschwenderischer Rausch aus Worten als ein Ereignis. Kein Sturm und Drang gegen Verhältnisse, keine Utopie ist hier mehr sichtbar. Vielmehr gilt: Jeder ist Single und hält an diesem Zustand virtuos fest. Und sollte jemand nach einem Prototyp für den Liebesroman unserer Zeit suchen, er könnte Nur du, und nur ich nehmen. Pars pro toto. Von Christian Uetz.

(Maria Benning)

 

Ricardo Piglia: Ins Weiße zielen.

Aus dem argentinischen Spanisch von Carsten Regling. Berlin: Wagenbach 2010, 252 Seiten.

Kurz vor der Frankfurter Buchmesse 2010 forderte "Die Wahrheit", die Satireredaktion der Berliner tageszeitung, alle Publizisten, die sich anschickten, das literarische Großereignis mit Schwerpunkt "Argentinien" anzuschieben, dazu auf, folgenden Vers in ihren Artikeln unterzubringen: "Der Tango macht den Gaucho heiß, wie jedes Rind der Pampa weiß." Über die dürftige Selbstironie dieser Phrase hinaus wird sehr schön das Dilemma des journalistischen Umgangs mit jedem neuen Buchmessen-Themenschwerpunkt beleuchtet: Achtung, aufgepaßt, forderten die Humoristen die Rezensenten auf, bitte aktiviert jetzt eure Argentinienklischees.

Das ist sicherlich kein würdiger Anfang, um sich mit dem neuen, beim Berliner Wagenbach Verlag erschienenen Roman Ins Weiße zielen von Ricardo Piglia zu beschäftigen. Aber oberflächlich betrachtet fehlt in diesem Buch, das als etwas lahmer Krimi beginnt und sich dann zu einer sehr argentinischen Provinzposse mit einigem Tiefgang auswächst, von den Schlagworten der "Wahrheit" eigentlich nur der Tango. Mit Gauchos und Pampa wird der Leser reich gesegnet; so viele Matetees werden da geschlürft und müde Blicke in die sprichwörtliche Weite Argentiniens geworfen. Statt Rindern spielen allerdings eher Pferde eine nicht unwesentliche Nebenrolle. Dennoch liegt in eben dieser klischeehaften Staffage die Eigentümlichkeit des Buches. Wenn das Wort nicht schon so abgedroschen daherkäme, müßte man wohl sagen: der Literaturprofessor Piglia hat eine Hommage an die Pampa geschrieben.

Aber der Reihe nach. Zunächst enthält die Handlung alle Elemente eines Krimis: Ein junger Puertoricaner kommt Anfang der 1970er Jahre in eine Kleinstadt irgendwo auf dem Land, einige hundert Kilometer südlich von Buenos Aires. Da er sich offenbar mit beiden Zwillingsschwestern der angesehenen Familie Belladona einläßt, wird die Klatschsucht des Ortes über Gebühr befriedigt. Eines Nachmittags wird dieser Tony Durán tot in seinem Hotelzimmer aufgefunden -- mit einem "Gauchomesser" erstochen. Es gibt den alternden, querköpfigen Kommissar Croce, der an einer Zigarre kaut und stets irgendeiner Eingebung folgend alle Fälle aufklärt; es gibt seinen gelehrigen Adlatus Salínas, der den Kommissar bewundert und ihm zunächst wie ein Dr. Watson zuarbeitet. Auch ein Verdächtiger ist bald gefunden: der winzige japanischstämmige Nachtportier Yoshio, der dem Ermordeten in homoerotischer Liebe verbunden war.

Aber so einfach liegen die Dinge nicht -- auch wenn der recht bald als Unsympath eingeführte Staatsanwalt Cueto ein schlichtes Verbrechen aus Leidenschaft darin sehen will. Die Presse wird auf den Provinzvorfall aufmerksam, der Reporter Renzi kommt aus der Hauptstadt, um persönlich zu berichten. Der Kommissar zieht ihn mit seinen fast philosophischen Überlegungen über das Verstehen der Fakten und ihre Deutung in seinen Bann -- und aus dem Krimi wird alsbald eher eine Reflexion über das Genre. "Entdecken heißt das, was noch niemand beachtet hat, auf eine andere Art zu sehen", läßt Piglia den Kommissar an einer Stelle sagen. Für das Herstellen von Literatur gilt dasselbe Prinzip, könnte man ergänzen. Croce gelingt es auch relativ schnell, den Fall mit einem Trick aufzuklären. Der -- wahrscheinliche -- Täter flüchtet in den Selbstmord. Doch damit hört nur der Krimi auf; der Roman fängt erst an.

Piglia macht seine ironische Kolportagetechnik transparent, indem er mit Fußnoten arbeitet. Darin liefert er Belege, gibt Hintergrundinformationen, erzählt aber auch Gauchowitze oder gibt Notate von Aussagen seiner Protagonisten wieder. Man kann vermuten, daß der im Roman erzählte Vorfall, der 1972, im Jahr vor Juan Peróns Rückkehr an die Macht, spielt, auf wahren Begebenheiten fußt -- wie es Piglia schon verschiedentlich, etwa in Brennender Zaster (Wagenbach Verlag 2002), gemacht hat. Diese Technik ermöglicht ihm auch, ausgehend von dem Mord, der immer mehr aus dem Fokus gerät, eine Art Geschichte der Besiedlung der Pampa zu erzählen.

Dazu rückt verstärkt die Familie Belladona ins Blickfeld. Die Saga dieser Familie, die drei Generationen zuvor den Ort gegründet hatte, ist der eigentliche Gegenstand eines Gesprächs zwischen Sofía -- der einen der beiden Zwillingsschwestern -- und dem Journalisten Renzi, das bereits nach wenigen Seiten kontinuierlich, in kursiv gesetzten Passagen, in den Erzählfluß eingewoben wird. Wie nicht anders zu erwarten, ist es eine Geschichte voller Härte und Lakonie, in der sich die Perspektive allmählich durch neue Figuren verschiebt. Im Mittelpunkt steht schließlich der Halbbruder Luca Belladona. Als Idealist und Träumer -- im Wortessinne -- hatte dieser wenige Jahre zuvor am Rande des Ortes eine Autofabrik gegründet hat, seit deren Pleite er sich in dem Areal verbarrikadiert, um seine hochfliegenden Pläne doch noch und nun allein verwirklichen zu können.

Plötzlich geht es nicht mehr um die Aufklärung eines Mordfalls, sondern ganz schnöde darum, daß die ruinöse Fabrik der Belladonas einem Einkaufszentrum weichen soll. Der Kommissar ist überraschend in den Ruhestand versetzt worden und hat sich selbst ins Irrenhaus zurückgezogen. Sein Inspektor beerbt ihn und macht mit dem Staatsanwalt gemeinsame Sache, dem eigentlichen Drahtzieher der Intrige gegen Luca Belladona. Und so kommt es eben, wie es immer kommt, auf dem Land, wo die Kräfte der Beharrung walten: der Falsche wird verurteilt, damit Luca seine Fabrik behalten kann. Dieser bringt sich jedoch am Ende um, weil er es nicht erträgt, einen Unschuldigen ins Gefängnis gebracht zu haben. Und der Journalist kehrt am Ende heim in die große Stadt.

Damit sind bei weitem nicht alle Facetten des Romans erwähnt. Man bekommt beim Lesen das Gefühl, an die eigentlichen Zusammenhänge ohnehin nie heranzureichen. Das Dorf, diese Welt im kleinen, in der genau zwischen Reich und Arm unterschieden wird, scheint dagegen alles zu wissen -- aber es schweigt. Selbst der kluge, alternde Kommissar Croce verspinnt sich allmählich in seinen unterschiedlichen Deduktionen des Falles. Auf der anderen Seite wird auch die Geschichte der Belladonas immer wieder und mit stets neuen Einzelheiten erzählt -- und dennoch wartet man bis zum Schluß vergeblich auf einen Befreiungsschlag, der die Geschichte kippen lassen könnte. Als Exponent dieses Schweigens kommt an einer Stelle der alte Belladona zu Wort: "Ich bin ein Familienmensch in einer Zeit, wo so etwas längst keine Bedeutung mehr hat." Und er wirft dem jungen, städtischen Renzi vor: "Ihr Journalisten seid dabei, das bisschen, das uns noch an Ruhe und Abgeschiedenheit geblieben ist, zu zerstören."

Das andere Extrem stellt sicherlich der in seiner Fabrik verschanzte Luca dar: der geniale, weltfremde Konstrukteur, der mit seiner Arbeit an einer ausgeklügelten, kafkaesken Spiegelmaschine seine Anfänge als Automobilbauer längst hinter sich gelassen hat. "Es ist eine Flugmaschine, die nur in der Hinsicht Bewegung produziert, als sie unsere Perspektive verändert und die Dinge auf uns zubewegt." Luca, der durch eine permanente Jungsche Traumdeutung seine ureigensten Ideale zu erkennen und auszuleben versucht, sieht in seiner Arbeit nichts anderes als "die Verkündigung einer neuen Epoche". Und ein ehemaliger Seminarist mit dem wohl nicht unabsichtlich deutschen Namen Schultz hält bis zum Ende jede Äußerung des Einzelgängers fest.

Und dann gibt es da auch noch das stets ein bißchen lasziv auftretende Schwesternpaar, die wie zwei Circen zwischen den verfeindeten Parteien hin- und herschwanken. Während Ada dem Staatsanwalt "verfallen" ist, entspinnt sich zwischen Sofía, die zu ihrem Bruder hält, und Renzi eine kleine Romanze, die allerdings kaum ausgeführt wird -- die Prosa der Pampa schließt das offenbar aus. Auch Sofía ist, wie Renzi in dem Moment klar wird, als sein Zug den Bahnhof verläßt, "wie alle anderen Leute vom Land": "Sie standen immer kurz davor, ihr Dorf zu verlassen und in die Stadt zu fliehen", aber "im Grunde ihres Herzens wussten sie genau, dass sie es niemals tun würden."

Es ist sicherlich kein Zufall, daß Piglia die Geschichte in der Zeit kurz vor der Rückkehr Peróns ansiedelt, des populistischen Präsidenten der 1950er Jahre: eine Zeit der politischen Hoffnungen in der sich bereits abzeichnenden Wirtschaftskrise der 70er Jahre -- in einer Fußnote wird die Aufkündigung des Goldstandards durch die US-Notenbank 1971 erwähnt --, die im Grunde bis heute andauert. Ins Weiße zielen ist ein Buch, das den Rezensenten schmeichelt: oberflächlich eine Bagatelle mit Krimiallüren in dürrer Pampa-Ästhetik, darunter jedoch eine mit Zitaten und Anspielungen gespickte Erzählung des Literaturprofessors Piglia aus Buenos Aires -- nicht ohne Humor, doch in der Sache unbarmherzig: mit den Worten "Und das war alles" endet der Roman. Und das ist dann wohl auch -- um auf den albernen Satz der "Wahrheit"-Redaktion zurückzukommen -- der Tango dieses Buches.

(Patrick Wilden)

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