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no. 1: seeweg indien -> aufgelesen
 

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Besprochen werden:
* David Mamet: Some Freaks
* Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen
* Vikram Seth: A Suitable Boy
* Paul Theroux: Die glücklichen Inseln Ozeaniens
 

David Mamet: Some Freaks

London: Faber and Faber, 1990. 192 S.

Zwei grundsätzliche Fragen durchziehen das dramatische Werk David Mamets:

  1. Können Männer und Frauen zusammen leben, und wenn ja, wieso scheitert der Versuch immer wieder?
  2. Ist das Leben sinnvoll eingerichtet, und wenn ja, wieso spürt man davon -- speziell in den USA -- nur so wenig?

Auch in seinem zweiten Essay-Band Some Freaks versucht sich Mamet an der Beantwortung dieser Fragen und gestattet dabei indirekt einen erneuten Blick auf seine Stücke. Konnte man sich angesichts derer noch fragen, ob es Mamet nur um die distanzierte Schilderung einer rettungslos verlorenen Gesellschaft sozialer und moralischer Krüppel ginge, oder ob sich hinter dieser Darstellung noch die Hoffnung verberge, etwas bewegen zu können, so zeigt sich Mamet in seinen Essays eindeutig als engagierter Moralist. Ganz gleich, ob er sich über die Rolle der Künstler (der freaks), seine jüdische Tradition, die Machenschaften der Charles-Atlas Gesellschaft, Stanislawskis Schuldscheinproblem, den 4. Juli oder Wölfe im Central-Park Gedanken macht, in den einfach erzählten Geschichten hat Mamet auf seine eigene Art immer die Würde des Menschen im Blick. Wenn dann in Liberty die USA zum tragischen Helden avancieren, den die Hybris vom rechten Weg abgebracht habe, wird endgültig offensichtlich, daß der tragische Gedanke von Aufstieg und Fall für Mamet auch im Leben statthat, wobei die Hoffnung auf eine Katharsis mitinbegriffen ist. Bei der Beantwortung der ersten der oben genannten Fragen in den Essays Women sowie In the company of men wendet sich Mamet dann sozusagen an die breite öffentlichkeit (laut Mamet ist jedes männliche Mitglied der US-amerikanischen Bevölkerung misogyn). Hier sollte man ihm den Schalk im Nacken nicht übelnehmen, zeichnen sich seine Essays doch vor allem dadurch aus, daß Mamets Sprachwitz, dem 'message-Zwang', dem er in seinen Stücken von Zeit zu Zeit unterliegt, nun enthoben, zu Hochform aufläuft: Wenn Mamet Vergnügungsparks als totalitäre Systeme brandmarkt und ihre Besucher einer subtilen Gehirnwäsche unterzogen sieht, oder anläßlich eines Fahrradschlosses mit der Aufschrift Kryptonit eine psychologische Studie Supermans abliefert, braucht sich auf jeden Fall niemand zu langweilen.

(Alexander Schlutz)

 

Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen

Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990. 249 S.

Wie ist das 'und' zwischen der 'Poesie' und dem 'Wissen' zu verstehen? Handelt es sich um ein ausschließendes 'und' oder um ein verbindendes? Heinz Schlaffer geht dieser Frage bis in die Antike nach und benennt die Distanz (sowohl die räumliche als auch die zeitliche) als notwendige Bedingung von Reflexion. Die Ästhetik als selbstständige Disziplin, die "den Gegensatz zum rationalen Denken" repräsentiert, gibt es dabei erst seit der Neuzeit: Die Antike hingegen unterschied noch nicht "zwischen Enthusiasmus und Erkenntnis". Sie betrachtete die Schrift als nützliches Mittel, eigenständige Aussagekraft besaß sie diesem Weltbild zufolge jedoch nicht. Anders der 'moderne' Mensch, der Träume, Ekstase und Enthusiasmus entweder analysiert oder in den Fiktionen der Poesie und Kunst zu erfahren sucht: "Ist auch die moderne Welt durch das exakte Wissen entzaubert, so bleibt doch dem modernen Subjekt das unbestimmte Bedürfnis, verzaubert zu werden, obgleich es alle Bequemlichkeiten der entzauberten Welt in Anspruch nimmt. Diese Verzauberung erfaßt also nicht die Umgebung, sondern das Ich selbst". Dabei befördert eine allzu bequeme und zweckorientierte Umwelt in ihrem prosaischen Charakter den Status des Imaginären: Die Vorstellung ersetzt die Erfahrung, die Phantasie erlöst von der Langeweile und Banalität des Lebens. Die Prosa des Alltags ist nützlich-kommunikativ, also hat die Dichtung in völliger Abhebung von ihr gefälligst 'schön' zu sein: "Es ist die Schönheit des überflüssigen ... Die praktische Entwertung ist die Bedingung des ästhetischen Werts". Wer unter diesem Postulat am meisten leidet, das sind "wir Literaturwissenschaftler". In einer marktorientierten Gesellschaft befinden 'wir' uns mit unserer Berufswahl sogleich im sozialen Abseits. Literatur mag zwar 'schön' sein, aber nützlich ist sie nicht. Von daher: Wer sich unbekümmert für die Literatur entscheidet, darf später nicht bekümmert sein, wenn die Berufsaussichten alles andere als 'schön' sind. Die eigentliche Schönheit der Dichtung hingegen sieht Schlaffer in einem ganz anderen Umstand begründet. In der poetischen Sprache lassen sich nämlich Inhalte transportieren, die der 'gesunde Menschenverstand' ansonsten nie und nimmer akzeptieren würde. Schlaffer führt dies humorvoll an Goethes Dem aufgehenden Vollmonde vor. Wer würde es schon im Alltag hinnehmen, den Mond als gewichtige Person anzusprechen, ihn gar zu duzen und ins Vertrauen zu ziehen? Derjenige, der dies auf abendlicher Straße unternähme, würde sich schlimmen Verdächtigungen hinsichtlich seines Geisteszustandes aussetzen, und ein Abschluß in Literatur würde da auch nicht viel weiterhelfen, wenn man beamtlich zur Rechenschaft gezogen würde. In der schriftlichen Poesie dagegen darf man sich "darüber wundern, daß ein vernünftiger Leser diese Verse ohne Bedenken und Einsprüche hinnimmt. Denn sie geben Sachverhalte und Vorstellungen als plausibel aus, die er bei einer gewöhnlichen Rede niemals akzeptieren würde". Und solange Poesie dazu imstande ist, so möchten wir mit Schlaffers Buch schlußfolgern, solange bleibt sie wünschenswert und sinnvoll.

(Angela Oster)

 

Vikram Seth: A Suitable Boy

New Delhi 1993.

Nach zahlreichen Gedichtbänden, Fabeln und einem autobiographischen Roman in Versform erscheint: ein mit mediengerecht angefachter Spannung erwarteter Roman von 1349 Seiten Länge, der sich gut verkauft und zumindest von seinen Kritikern tatsächlich gelesen wird. "Eine Seifenoper", schnaubt Salman Rushdie, und der BBC sorgt sich angesichts des Publicity-Rummels in London und Delhi um die Filmrechte. "Ein indischer Middlemarch", dröhnen jene, die englischsprachige indische Literatur als eine gestrandete Geisel des Empires empfinden. Ein Schinken konventioneller Machart, dieser Roman, der das Schicksal von vier indischen Großfamilien im Jahre 1951 über ein Jahr lang streng linear mitverfolgt. Das Cricketmatch England-Indien, Rural Elections, ein langsames Erwachen aus dem Trauma der Teilung Indiens; erstmals zusammenhängend und umfassend erwähnt finden sich viele dieser konstituierenden Elemente eines nationalen, -- nicht nationalistischen -- Einheitsgefühls, das im heutigen Indien ubiquitär ist (als Floskel).

Erklärbar wird bei der Lektüre auch, warum die englische Sprache, das Vehikel fremder Machtausübung, in Indien fortlebt und gedeiht: Sie ist ein Teil indischer Alltagskultur, und ihre Einsatzmöglichkeiten sind unbegrenzt; ob bei Liebeskummer, "Just read a Wodehouse", patriotischer, mieser Gelegenheitsdichtung in Chaucer-Manier, Einblicken in Export-Spriritualität, "Take in environment and supreme being through nostrils". Die ungezählten Opfer des British Overseas Education Systems, die bei brütender Hitze im College "Daffodils" rezitierten, nehmen die Batterie ironischer Literaturzitate begeistert auf. Viele Inder der Unabhängigkeits-Generation sehen ihre Erfahrungen in diesem Roman reflektiert und beharren darauf, daß der fiktive Handlungsort Brahmpur existiert, nämlich überall und Irgendwo in Indien. A Suitable Boy ist eine gelungene Kollektivaufnahme jener Zeit, und für uns, wenn wir auch bei anhaltender Lektüre zum Misanthropen mit schmerzendem Handgelenk werden, erlesbar.

(Sujata Banerjee)

 

Paul Theroux: Die glücklichen Inseln Ozeaniens

Hamburg: Hoffmann und Campe, 1993. 718 S.

Nein, glücklich sind die Inseln Ozeaniens nicht mehr, ein Glücksfall der Reiseliteratur aber dieses Buch. Angesichts eines 'Melanoms' auf seiner Haut assoziierte Theroux nur 'Melanesien' und machte sich auf, seine Haut zu retten. Theroux' Paddeltrip dauerte anderthalb Jahre und führte von Neuseeland über Australien, die Salomon-, die Fidschi-, Tongatapu- und Cook-Inseln, über Tahiti, die Osterinseln bis nach Hawaii. Auch hier nur wieder wie bei Lévi Strauss Traurige Tropen oder gar bei Nigel Barley Traumatische Tropen. Schaudernd wenden wir uns ab von verfetteten Eingeborenen, die lieber von Fischkonserven leben als auf Fischfang gehen, die im Gegensatz zum Autor auf dem Wasser seekrank werden. Keine Erinnerung mehr an die nautischen Leistungen der Vorfahren, nur noch die Sozialhilfe im Blick. Der westliche Lebensstil erscheint ihnen so begehrlich wie uns noch immer ihre Heimat, die Südsee.

Doch Theroux langweilt nicht mit aufklärerischer Attitüde. Die kulturelle, soziale und atomare Umweltzerstörung durch die Kolonialherren steht nicht im Vordergrund. Hier hören wir wie immer bei Theroux von grotesken Details, skurrilen Persönlichkeiten, abstrusen Religionsgemeinschaften und der nach wie vor einmaligen Landschaft. Kurz, er beschreibt die ganze Bizarrerie überströmender Lebenskraft auf allen Seiten. Auch wenn die Südsee die Klischees nicht mehr bestätigt, durch Theroux' Erforschung des Lebensalltags durch alle Brüche hindurch wird sie wieder, was sie einmal war: einzigartig.

(Thomas Wägenbaur)

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