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no. 2: sehnsucht
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editorial |
Wäre die Welt eine festgelegte Struktur, an der sich nicht mehr rütteln ließe, in der jeder, jede und alles seinen festen und vorbestimmten Platz besäße, gehörte das Wort Sehnsucht wohl kaum zu unserem Wortschatz. Wenn die Einzelne sich nicht stets wieder aufs Neue verorten, sich selbst und den Bezug zur Welt und den Anderen ständig erneut herstellen müßte, gäbe es die treibende Kraft der Sehnsucht nicht, die uns diesen Anlauf immer wieder aufs Neue zu nehmen zwingt und zu nehmen ermöglicht. Es ist ein Mangel an Eindeutigkeit in der Welt, der den Spielraum der Sehnsucht eröffnet, die ungeachtet ihrer unablässig Wirklichkeit werdenden Manifestationen nie zum Ende kommt, da die Offenheit, aus der sie entspringt, sich nicht schließen läßt. Jeder Versuch, dies zu tun, der Diktaturen im Großen wie im Kleinen eignet, ist innerhalb menschlicher Maßstäbe zum Scheitern verurteilt. |
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So ist die entscheidende Eigenschaft, welche die Sehnsucht von Wünschen, Hoffnungen und Utopien trotz ihrer engen Verknüpfung mit diesen unterscheidet, das Bewußtsein einer notwendigen Unerfüllbarkeit, welches mit ihr auf paradoxe Weise untrennbar verbunden ist. Wärend Wünsche sich auf ein bisher Abwesendes richten, das erreicht werden kann, oder nicht, ist die Sehnsucht an die Abwesenheit gebunden aus der sie entsteht und kann daher weder ans Ziel kommen, noch scheitern. Wenn überhaupt, so findet sie vorübergehende Erfüllung in der Bewegung, die sie ständig erneut hervorruft. Im Gegensatz zurUtopie, die letztlich stets mit der Fiktion arbeitet, es ließe sich ein allgemein verbindlicher Zustand der Ordnung in der Zukunft einrichten oder eine idealisierte Vergangenheit wiederherstellen, ist die Sehnsucht so mit einem Tanz auf der Schwelle zu vergleichen, der temporäre Einigungen und Übereinkünfte hervorbringt, im gleichen Moment aber schon wieder aus ihren Grenzen herausdrängt und erneute Diskussion notwendig macht. |
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Man kann die Unabwägbarkeiten dieser Situation fürchten und auf das Nicht-enden-könnende dieser Bewegung mit Unwillen oder Resignation antworten, man kann sie aber auch als Herausforderung betrachten, die der Sicherheit des Stillstands allemal vorzuziehen ist. Sehnsucht schließ tstets beides als Möglichkeit in sich ein: Glück und Schmerz, Hoffnung wie auch Verzweiflung. |
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Mit diesem Bild der Sehnsucht ließe sich jedenfalls der Meinung entgegentreten, durch die Entlarvung des diktatorischen undzerstörerischen Potentials der großen Utopien dieses Jahrhunderts seiuns im gleichen Atemzuge jede Möglichkeit genommen, unsere Anstrengungen noch aktiv über die Gegenwart hinauszulenken, einer Ansicht, für die unverbindliche Beliebigkeit die einzige Alternative zu den Eindeutigkeiten eines Weltbildes darstellt, das auf unumstößlichen Definitionen für Gut und Böse, Wahr und Falsch, rechtem Weg und Irrtum beruht. |
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Es kann nicht der Sinn der berechtigten Ideologiekritik der Gegenwart sein, den Blick dafür zu verstellen, daß es auch nicht-fundamentalistische Wege gibt, sich die Zukunft zu erträumen, und die im Prinzip einfache, in der Umsetzung dafür aber umso schwierigereLösung, alle übereinkünfte als jeweils provisorisch,veränderungsfähig und -bedürftig zu erachten, erweist sich möglicherweise als eine Wahl, die dem diktierten Stillstand der Utopie sowie dem selbstgefälligen Trott der Perspektivlosigkeit vorbeugt, die Offenheit jedoch zuläßt, aus der sich die stete und unstillbare Bewegung der Sehnsucht speist. |
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Die Artikel dieser Ausgabe können daher weder rein beschreibend noch gar definitorisch gedacht sein, sondern geben auch selbst wieder dieser Bewegung Ausdruck, die sich hier aller Ereignisse zum Trotz von Hölderlins Dichtung bis in den Cyberspace spannt. |
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Denn Sehnsucht ist möglicherweise nichts anderes als ein starrköpfiges 'trotzdem!' der Seele und somit wohl der Grund, wieso wir uns -- aller Enttäuschungen, Ernüchterungen und Entzauberungen ungeachtet -- immer noch bewegen und nicht resignierend die Hände in den Schoß legen können. |
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Alexander Schlutz |
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autoreninfo
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Dr. Alexander Schlutz leitet die parapluie-Redaktion, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Bonn, Tübingen und Seattle, und unterrichtet zur Zeit Englische Literatur am John Jay College of Criminal Justice in New York City.
E-Mail: alexander.schlutz@parapluie.de |
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