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no. 2: sehnsucht -> Über das wandern im cyberspace
 

Lust auf neue Schuhe?

Über das Wandern im Cyberspace

von Anke Bahl

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* literatur
* druckbares
* diskussion

Die selbstgewählte Identität ist in Cyberspace und Internet längst kein Problem mehr; fraglich bleibt aber weiterhin, auf welche Weise dieser Freiraum mit den realen Zwängen der Welt off-line in Zusammenhang steht und in Verbindung gebracht werden kann.

 

"Let's have a drink!" Sita und Ovlor sitzen in ihrem Lieblingspub in Nightfall City bei einem Guinness, um sich von den Strapazen des Tages zu erholen, die ihnen wieder einige Erfahrungspunkte eingebracht haben. Ovlor hat gerade einen schweren Kampf mit zwei Orks hinter sich. Diese Monster erschienen natürlich genau in dem Moment aus dem Dickicht des Waldes, als er endlich den lang gesuchten Geheimtunnel zu Sandy Island entdeckt hatte. Diesen wird er erst später verfolgen, denn nun will er hören, was seine Freundin Sita in Lorinia erlebt hat. Sie hat die Reise von dort diesmal nicht zu Fuß, sondern per Fliegendem Teppich zurückgelegt.

Willkommen in der Welt eines der über 500 on-line Abenteuerspiele im Internet, auch MUDs (Abkürzung für Multi-User Dungeon) genannt! Ein MUD ist ein text-basiertes, meist englischsprachiges Abenteuerspiel, installiert auf einem der vielen Großrechner im Internet, in den sich an die hundert Spieler, in der Regel junge Studierende aus den verschiedensten Teilen der Welt, gleichzeitig einloggen können. Die Spannbreite reicht von Science Fiction Szenarios über Vampir- und Horrorwelten bis zu Herr der Ringe-Variationen, und sie folgen dem Muster amerikanischer Rollenspiele wie Dungeons & Dragons oder hierzulande Das schwarze Auge. Man kann sie mit jener Sorte Abenteuerroman vergleichen, bei der die eigene Beurteilung der Situation am Ende eines Kapitels darüber entscheidet, wie die Handlung weiterverläuft, d.h. auf welcher Seite man weiterliest. Will man es bis zum Magier bringen, müssen eine bestimmte Anzahl von Abenteuern bestanden werden, aber davon abgesehen wird der Spielverlauf von den Spielern selbst ausgehandelt, die Geschichte gemeinsam fortgeschrieben. In dieser körperlosen, nicht graphisch-, sondern allein textbasierten Welt, sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Und so sind auch die darin agierenden Charaktere nicht bloß Reproduktionen der dahinter stehenden Spieler in Real Life, wie der Alltag off-line im Internetjargon bezeichnet wird, sondern in diesen virtuellen Gemeinschaften besteht die einmalige Chance zur Maskerade, zur Schöpfung einer alternativen Identität. Und manche ergreifen diese Chance sehr bewußt ...

Sita und Ovlor sind sich eines Tages im Spiel begegnet, ein gemeinsamer MUD-Freund hatte sie einander vorgestellt: Gegen die unausgesprochene Regel fragt Ovlor sie bald nach ihrem Leben off-line, nach ihrem Namen, ihrem Studium, dem Ort, von dem aus sie eingeloggt ist. Und Sita, die diesbezüglich sonst eher zurückhaltend ist, teilt ihm mit, daß sie Amy heißt und an einem College in Virginia studiert. Ovlor, erfährt sie, heißt in Wirklichkeit Michael und studiert in Tübingen. Spontan bietet er Amy eine Brieffreundschaft an. Bis zum Austausch der ersten handgeschriebenen Briefe haben sie im MUD schon einige Abenteuer gemeinsam bestanden und viele Stunden 'geredet'. Anfangs besitzt Ovlor für Amy noch gar keine reale Gestalt, er ist einfach ihr cooler Kumpel im Netz, eine Fantasiegestalt. Aber mit seinem ersten Brief, dem ein Foto beigelegt ist, wird ihr schlagartig bewußt, daß sich dahinter eine wirkliche Person verbirgt. Dieses Gesicht hat jedoch mit ihrem College-Alltag keine rechte Verbindung, sondern gehört zur Netzwelt, in die sie allmählich tiefer eintaucht. Denn im Gegensatz zu Amy ist Sita eine fröhliche, attraktive und mutige Person, die alle Themen, die ihr in den Sinn kommen, ohne Hemmungen anspricht und frei ihre Ansicht dazu äußert. Neben den gemeinsamen Erlebnissen im MUD erzählt sie Michael aber auch von ihrem Alltag, von den Schwierigkeiten mit ihrem Freund John, und das Vertrauen zwischen ihnen wächst. Im Netz fühlt Amy sich sicher. Niemand schaut sie an, niemand erwartet etwas von ihr, niemand urteilt über sie. Über das zwischen ihnen vermittelnde Interface delegiert sie ihre virtuelle Vertretung Sita und läßt sie mit verschiedenen möglichen Reaktions- und Handlungsweisen auf die Geschehnisse im MUD experimentieren. Dabei stößt sie auf weniger Widerspruch bei den Mitspielern, als sie erwartet hätte. In ihrer physischen Umgebung hingegen ist Amy nur von Menschen umgeben, die lange gemeinsame Freunde von John und ihr sind, so daß sich ihr keine Möglichkeit bietet, diese Beziehung und ihre Rolle darin aktiv zu hinterfragen. Amy fühlt sich festgelegt und eingeengt in ihrem Handlungsspielraum.

Sitas MUD-Freunde sind glücklicherweise sowohl emotional als auch geographisch distanziert genug, um ihr zuhören zu können. Außerdem ist zu jeder Tages- und Nachtzeit jemand für sie da. Ihre Fragen und Zweifel teilt sie hauptsächlich mit Michael, und die Gefühle, die sich dabei langsam in ihr regen, ignoriert sie so gut sie kann: "Es war sehr einfach für mich zu sagen 'Hier ist das Netz. Und hier ist das wirkliche Leben.' Es war sehr einfach für mich zu sagen 'Ich kann diesen Menschen so gern haben wie ich will, weil er 4000 Meilen weit weg ist. Er ist Ovlor, nicht Michael. Und ich bin nicht Amy. Ich bin Sita im Netz.' " Langfristig lassen sich aber diese unterschiedlichen Manifestationen ihrer selbst und die damit verbundenen Emotionen nicht voneinander getrennt halten. Der Identitätskonflikt bricht schließlich offen aus und zieht die Trennung von John nach sich.

Amy findet Trost bei ihren MUD-Freunden und verbringt noch mehr Zeit hinter ihrem Terminal. Langsam beginnt sie sich jedoch den bislang ausgeblendeten Fragen zu stellen. Zum ersten Mal nehmen Michael und sie ihre Stimmen über Telefon wahr. Bald darauf gestehen sich sich die Intensität ihrer Gefühle füreinander ein. Den Gesprächen in der Spielumgebung, die sehr in den Hintergrund gerückt ist, ziehen sie nun lange, privatere Talk-Sessions am Computer vor, bei denen sich der Bildschirm teilt und oben der eine, unten der andere schreibt. Die Sehnsucht, sich einmal in Real Life gegenüber zu stehen, wächst und nimmt immer konkretere Vorstellungen an. Sieben Monate nach ihrer ersten Unterhaltung mit Ovlor sitzt Amy im Flugzeug nach Frankfurt und bangt der Begegnung mit Michael entgegen. Welchen Grund, sich zu sorgen, hätte sie, außer der Frage, ob sie sich auch in Real Life noch so viel zu sagen haben werden wie bisher? Auf dem steinigen Weg der Versöhnung zwischen Amy und Sita fehlen jedoch noch ein paar wichtige Schritte, über die Amy Michael im Unklaren gelassen hat. Amys Annäherung an Sita ist noch nicht hundertprozentig, bzw. anders gesagt, Amy hat sich von der Fiktion und dem Idealbild Sita noch nicht ganz emanzipieren können. Ihr Ich befindet sich noch im Schwellenzustand zwischen virtueller und physischer Kultur: "Das war sehr hart für mich, weil Sita nicht dick war. Sie war dünn! Und das war die eine Sache, an die ich mich so klammerte, daß ich, als ich dann schließlich Amy wurde, dachte: 'Ich muß daran wirklich festhalten, weil ich nicht, ich meine, ich kann einfach nicht sagen, daß ich übergewicht habe!' " Der Graben zwischen beiden verkörpert sich in einigen Kilogramm Übergewicht, die Michael bisher unterschlagen wurden. Und so steht plötzlich eine tief verunsicherte, von der langen Reise erschöpfte Amerikanerin vor ihm, die nicht viel mit dem Bild gemein zu haben scheint, was Michael sich in den Monaten zuvor von ihr gemacht hat. Anders als in vielen anderen, ähnlichen Fällen aber macht das anfängliche Befremden in den folgenden Wochen in Deutschland einer vertieften Begegnung der beiden Platz. Heute, drei Jahre nach dem Austausch ihrer ersten getippten Worte am Bildschirm, leben sie zusammen in Deutschland, wo ich sie bei meinen Streifzügen durchs Rechenzentrum kennenlernte. Dort begegneten mir noch andere Menschen, die es reizt, in eine andere Rolle zu schlüpfen.

Einen weiteren beliebten Zeitvertreib für 'Vernetzte' bietet Internet Relay Chat (IRC), ein Dikussionsforum mit an die 25 Teilnehmern gleichzeitig. Dazu loggt man sich mit einem möglichst prägnanten Spitznamen in einen der unzähligen on-line Kanäle ein, bevölkert von jeweils unterschiedlichen Interessengruppen, liest die Gesprächsbeiträge der anderen und beteiligt sich je nachdem auch selbst. Für Hans, einen amerikanischen Austauschstudenten in Tübingen, der zu Beginn seines Auslandsaufenthalts noch kaum Kontakte zu Deutschen besaß und ohnehin mit der deutschen Sprache zu kämpfen hatte, bot der amerikanische Fankanal seiner Lieblingsrockgruppe einen willkommenen Ausgleich, eine soziale Stütze.

Als Spitznamen hatte er "Lufthans" gewählt, denn in den USA studiert er Luft- und Raumfahrttechnik. Als er sich einmal in einen der englischsprachigen Kanäle einloggte, die vor allem von Russen frequentiert werden, wurde er ganz unvermutet als dreckiges Nazi-Schwein von einem Teilnehmer beschimpft. Was war passiert? Offensichtlich hatte diese Person mit dem Befehl 'who' nachgesehen, welche Internet-Adresse sich hinter seinem Spitznamen verbarg. Da Hans' Adresse eine deutsche war und nicht nur sein Vor-, sondern auch sein Nachname hätten deutsch sein können, identifizierte ihn sein Gegenüber fälschlicherweise als Deutschen. Für Hans wurde dies zu einer prägenden Erfahrung. In seinem Tübinger Alltag wird er in der Regel schon von weitem durch sein äußeres, seine Kleidung etc. als Ausländer erkannt. Spätestens wenn er den Mund aufmacht, ist eindeutig, daß er Amerikaner sein muß. Die Schwierigkeiten mit der deutschen Grammatik und sein starker Akzent lassen sich einfach nicht überhören. Aber hier im Internet spielte das alles keine Rolle, und Hans entdeckte die Chance, die darin für ihn lag. Zunächst ging er weiter in diverse amerikanische Kanäle und beteiligte sich an Diskussionen zu Fragen von Rassismus und dem Umgang mit der eigenen nationalen Vergangenheit. Als Amerikaner ist er stolz auf sein Land, und seiner Meinung nach können das auch die Deutschen sein, ohne gleich als Nazis gebrandmarkt zu werden. Im Netz habe er eine ganz übliche und breit akzeptierte amerikanische Einstellung vertreten, allerdings mit anderem nationalen Vorzeichen, und das rief Widerstand hervor. Hans betont, daß es ihm nicht darum gehe, den Deutschen seine Ansicht aufzudrängen, nein, aber er möchte den außenstehenden Amerikanern doch "die schwarze Brille" abnehmen, durch welche sie die Deutschen betrachten und ihre stereotypen Klischees aufbrechen.

Da im Netz nicht nur der Körper, sondern auch der kulturelle Hintergrund zum austauschbaren Zeichen wird, entstehen Interpretationszusammenhänge, für die valable Referenzen erst noch gefunden werden müssen. Es mag fraglich sein, ob Hans tatsächlich einen Beitrag zur interkulturellen Verständigung leistet, indem er eine solche Position einfach in einen anderen historischen Kontext transponiert. Aus seiner Sicht zumindest hilft ihm IRC in vielerlei Hinsicht dabei, seiner Aufgabe als Austauschstudent nachzukommen. Seinen Zugang zur deutschen Gesellschaft empfindet er im Alltag als deutlich eingeschränkt, da seine Nationalität ihm immer wieder im Wege steht. Er wolle die Deutschen und ihre Lebensweise aber nicht nur wie durch ein Schaufenster von außen wahrnehmen, sondern von innen heraus daran teilhaben. Also hat er sich nicht nur darauf beschränkt, in englischsprachigen Kanälen die Reaktionen auf ihn als vermeintlich deutschen Gesprächspartner sorgsam zu beobachten, sondern sich allmählich auch in deutsche Kanäle gewagt. Zunächst nahm er eher passiv daran teil, aber mit zunehmenden Sprachkenntnissen brachte er sich mehr ein. Da die Kommunikation ohnehin nur in kurzen, umgangssprachlichen Sätzen erfolgt und dazu häufig Tippfehler auftreten, war für viele Hans' deutsche Identität durchaus glaubwürdig. Hans betont allerdings, daß er niemals von sich behauptet habe, er sei Deutscher. Er habe auf Fragen nach seiner Herkunft immer geantwortet, er sei jetzt in Tübingen und lediglich, wenn man ihn direkt darauf ansprach, habe er seine wahre Identität preisgegeben mit der Bitte, dies nicht weiterzuerzählen. Eine amerikanische Redewendung besage, daß man einen Menschen erst dann richtig kenne, wenn man viele Male in seinen Schuhen durch die Welt gelaufen sei, und IRC stelle einem immerhin zu einem gewissen Grad diese Schuhe bereit. Man müsse nur bereit sein, sie auszuprobieren.

Diesem Motto folgt auch ein deutscher Student, der in einem MUD Elina, einen weiblichen Charakter, spielt, ohne daß seine Mitspieler wissen, daß sich dahinter ein männlicher Spieler verbirgt, den viele von ihnen persönlich von den regelmäßig überall in Deutschland stattfindenden Real-Life-Parties kennen. Neben der Überlegung, daß man als weiblicher Charakter mehr (eventuell auch ungewollte) Aufmerksamkeit erhält, spielte für Christian bei dieser Entscheidung der Wunsch eine Rolle, einmal die Perspektive zu wechseln: "Der Versuch, sich mal in 'ne ganz andere Rolle zu versetzen, die Welt aus ganz anderen Augen zu sehen, kann nur lehrreich sein... Ich bezweifle oft, daß ich das überhaupt hinkrieg' eigentlich. Und ich wunder' mich oft, warum ich so überzeugend sein soll. Also warum's ja eigentlich noch niemand wirklich bezweifelt hat, daß Elina Real Life female sei. Das frag' ich mich selber oft. Aber ich kann's nicht beantworten." Christians Erfahrungen stehen beispielhaft für die vieler andere Computer Crossdresser im Internet. Bisweilen entwickelt die On-line Person dabei solch ein ausgefeiltes Eigenleben, daß sie auf das Leben off-line übergreift. So in dem berühmten Fall eines New Yorker Psychiaters, der sich in den achtziger Jahren in Frauenzirkeln zu einer hochgeschätzten und berühmten Beraterin und Freundin für viele entwickelte, bis er schließlich unter großer Empörung enttarnt wurde. Denn damals war man auf derlei Maskerade noch lange nicht so gefaßt wie heute.

Vielleicht ist die Frage, ob die neuen Schuhe dieser Menschen sie tatsächlich zu den Erfahrungen tragen, die sie sich ursprünglich davon erhofft haben, gar nicht so entscheidend. Denn wenn ihre eigenen Identitäten im Netz schon nicht 'stabil' sind, wie soll man dann sicher sein, daß es jene Repräsentationen anderer sind, in denen sie sich bei ihrer Wanderung spiegeln? Nur im Spiegel aber erfahren wir uns selbst. Weisen uns diese neuen Möglichkeiten, dem uralten Wunsch der Menschheit nach Maskerade nachzukommen, nicht letztlich bloß darauf zurück, daß auch unsere realtweltlichen Subjektpositionen lange nicht so sicher sind, wie wir glauben? Nur daß jetzt -- anders als zuvor -- auch der Körper, bzw. seine virtuelle Repräsentation als Zeichen, zur unbegrenzten Fläche phantasmatischer Figurationen wird und das Begehren nicht länger an physische Präsenz gebunden zu sein scheint?

Diese und viele andere Geschichten berichten von Grenzerfahrungen mit der eigenen Identität, vom Verschmelzen von Mensch und Maschine, vom Wahrnehmen neuer Seiten und Quellen ungeahnter Kreativität. Nicht alle gehen glücklich aus. Wie in der Realwelt auch gibt es Menschen, die sich auf den bisweilen krummen Pfaden der Cyberspace-Wildnis verlaufen und den Sprung in die Realität, anders als Amy, nicht schaffen. MUD-Spielen kann Flucht sein und zur Droge werden, so wie vieles, das man extrem betreibt.

Der Beliebtheitsgrad von derartigen sozialen Knoten on-line weist zurück auf einen wachsenden Mangel der Welt off-line: das Absterben der öffentlichen Sphäre und damit einhergehend die zunehmende Isolation vieler Vereinzelter. Laut dem Soziologen Richard Sennett dient in westlichen Gesellschaften öffentlicher Raum in erster Linie dem Bedürfnis, sich möglichst schnell durch ihn durch zum nächsten Privatraum zu bewegen, weil er nicht nur architektonisch unwirtlich, sondern häufig auch unberechenbar und gefährlich geworden ist. Öffentliche Rollen haben ihre Ausstrahlungskraft und Würde verloren, wohingegen als neuer Maßstab für Authentizität die Selbstenthülllung im Privaten getreten ist. Das Ich erfährt sich nur noch in intimen Beziehungen, Theatralität ist verpönt.

Cyberspace ist eine etwas unglücklich gewählte Metapher für die Dimension, die sich als neue Alternative nun entfaltet. Selbst wenn kartesianische Vorstellungen von Zeit und Raum hier nicht zutreffen, so verbindet sich mit dieser Wortschöpfung doch so etwas wie das virtuelle Modell eines öffentlichen Versammlungsortes, welches dem Bedürfnis der Menschen nach 'Verbindung' und sozialem, öffentlichen Kontakt entgegenkommt. Hier bietet sich ein scheinbar sicherer, da körperloser, Raum, in dem die Anwesenden wieder bereit sind, Risiken miteinander einzugehen, ein willkommenes Forum für die Schauspielkunst, die in jedem von uns steckt. Die Spielwelt des MUD bietet sich dabei besonders an und wird nicht als Gegenwelt zur wirklichen benötigt, denn in der Regel manifestieren sich hier ganz ähnliche Verhaltensregeln und Machtstrukturen. Entscheidend ist der spielerische Umgang damit, die Möglichkeiten zur Neudefinition, zum Experiment, zur Übung, die Bereitschaft zum Risiko.

Sennett schrieb vor zwanzig Jahren über den seiner Kunst beraubten Schauspieler und diagnostizierte das Ende der öffentlichen Kultur:

"Wer die Fähigkeit, zu spielen, verliert, verliert auch das Gefühl dafür, daß die Welt plastisch ist. Die Fähigkeit, mit dem gesellschaftlichen Kontext zu spielen, hängt davon ab, ob die Gesellschaft über eine Dimension verfügt, die neben dem intimen Bereich von Wunsch, Bedürfnis und Identität existiert und Distanz zu ihm wahrt."

Ob die Netzwelt diese Dimension für die Gesellschaft zu übernehmen vermag und nicht vielmehr, wie viele Kulturkritiker warnen, zu einer noch hermetischeren Isolation führt, hängt von uns ab.

Zu bedenken bleibt allerdings, daß dieser neue Raum der Interaktion und Performanz im Unterschied zu allen öffentlichen Sphären der Geschichte körperloser Natur ist. Auch der geographische Ort, von dem aus man sich einloggt, ist irrelevant, solange man eine spezifische Position im Cyberspace einnimmt. Konsistenz ist dabei keine Tugend mehr, sondern wird zu einem Laster. Die Bühne dieser Performanzen jedoch, wie die Kulturwissenschaftlerin Allucquère Rosanne Stone betont, ist immer noch unser Körper, eingebunden in Machtstrukturen, in denen Schmerz das Mittel der Kontrolle ist, das hat nicht nur Amys Geschichte illustriert. Zwischen der virtuellen Gemeinschaft, in der diese körperlichen Empfindungen andere Bedeutungen haben, und dem Leben off-line, in dem uns Machtstrukturen in bestimmten, kontrollierbaren Identitäten gefangenhalten, hin und her zu springen, ist ein Problem, für das die Lösung erst gefunden werden muß:

"Bevor wir die Schwelle zu den virtuellen Welten überschreiten, müssen wir begreifen, wie diese Strukturen hier, in der physischen Welt, funktionieren. Bevor wir die Freiheit dieser wunderbaren Netzwerke genießen, müssen wir darauf achten, was hier passiert: welche Rolle der Schmerz in unserem jeweiligen individuellen Selbst spielt und auf welche Weise uns Machtstrukturen physisch an bestimmte Orte fesseln -- und nicht nur physisch, sondern genauso in psychischer und gesellschaftlicher Hinsicht. Macht ist dann am machtvollsten, wenn sie unsichtbar ist. Und in den neuen sozialen Räumen der Kommunikationstechnologie bleibt die Macht vorläufig ziemlich unsichtbar."

Laut Allucquère R. Stone bietet Forschung im Cyberspace jedoch gleichzeitig die Chance, über dieses Medium, das sich noch in der Entwicklung befindet und dessen Konstruierung offensichtlich ist, etwas über das Entstehen von Diskursen der Macht zu erfahren. Und so vermag uns vielleicht die Erfahrung der Netzwelt zu neuen Erkenntnissen über die wirkliche verhelfen. Die Schuhe warten schon...

 

autoreninfo 
Anke Bahl stammt aus dem Norden Deutschlands und studierte Empirische Kulturwissenschaft, Germanistik und Romanistik in Tübingen und Eugene, Oregon. Inzwischen ist sie im Rheinland zu Hause und lebt in Bonn. Nach Tätigkeiten im Bereich der Medienforschung und Europäischen Jugendbildung ist sie nun schon viele Jahre in der Beruflichen Bildung unterwegs. Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Betrieblichen Bildung und Ausbildungskultur. Verschiedene Veröffentlichungen.

 

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