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no. 7: der sprung
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editorial |
Wer über den Sprung nachzudenken versucht, steht nicht selten vor ebenso großen Schwierigkeiten wie derjenige, der zum Sprung ansetzt. Als Metapher des Denkens, Handelns und der religiösen Erfahrung entzieht sich der Sprung einer einheitlichen Bestimmung. Ein Grund für diese Widerständigkeit liegt wohl darin, daß jede Vorstellung des Springens abhängig ist von etwas, das dem Sprung vorausliegt, das Bild des Sprungs also auf ganz besondere Weise unselbständig ist. Jeder Sprung bedarf einer Fläche, von der er ausgeht, und einen Zielpunkt, auf den er sich hinbewegt. Zwei Grundformen lassen sich dabei unterscheiden: Entweder öffnet sich zwischen diesen Punkten eine Leere, die der Sprung, die man im Denken des Sprungs zu überbrücken versucht (eine relative Grenzüberschreitung); oder aber das Ziel des Sprungs soll diese Leere selbst sein (eine absolute Grenzüberschreitung). In beiden Fällen können jedoch Ausgang und Ziel nicht das eigentliche Medium darstellen, in dem sich der Sprung bewegt. Dieses Medium ist -- sofern von einem Sprung und nicht von einem Zerspringen die Rede ist -- etwas Drittes. Es gleicht einem Feld von Kräften, die dem Sprung eine besondere Form verleihen und die ein Ereignis herbeiführen, das selbst noch einmal jenseits von Überbrückung und Trennung angesiedelt ist. So führt das Nachdenken über den Sprung zu metaphorischen Spekulationen, die dieses Kräftefeld und seine verborgenen Parameter begreifen wollen. |
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Die Beiträge dieses parapluie versuchen Wege in die bislang noch ungeschriebene Geschichte des Sprungs zwischen Metapher und Begrifflichkeit zu ebnen. Wollte man diese Geschichte bei ihren Wurzeln packen, müßte man vermutlich weit zurückgehen und ebenso das alteuropäische wie das außereuropäische Denken im Auge haben. Der buddhistische Meister Huang-Po aus dem 9. Jahrhundert etwa gibt uns zu bedenken: "Ist seine Kraft erschöpft, dann fällt der Pfeil zu Boden; du baust dir Existenzen auf, die deine Hoffnungen dann doch niemals erfüllen werden. Wie weit bleibst du entfernt vom Tor zur Überschreitung, von dem ein Sprung nur Buddhas Land erreicht." In der religiösen Erfahrung unbegreifbarer Andersheit und Verbindlichkeit des Göttlichen scheint nur das spontane Hinter-Sich-Lassen aller vertrauten Bindungen der ins Leben tretenden Unvermittelbarkeit Ausdruck verleihen zu können. Die Geschichte der Religionen berichtet über eine Vielzahl von Erkenntnissprüngen von der Mystik bis zum Agnostizismus. |
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Auch das theoretische Denken kennt seine Sprünge. Noch heute werden die Bedeutungen unserer alltäglichen Sprung-Darstellungen in Werbung, Kunst und Wissenschaft geleitet von Begriffsentwicklungen, die bereits in der neuzeitlichen Philosophie vorgedacht wurden. Überhaupt hatte kaum eine Epoche ein so klares begriffliches Bewußtsein von der Bedeutung des Sprungs wie das 17. und 18. Jahrhundert. Gerade deswegen, weil das Kontinuitätsprinzip gewahrt werden sollte, welches die Sprunglosigkeit der Natur behauptet, achtete man umso mehr auf die Begründungslücken und infinitesimalen Risse, die mit dieser Voraussetzung nicht in Einklang zu bringen waren. Nachdem sich die Sprunghaftigkeit als nicht wegzudenkendes Phänomen einmal etabliert hatte, geriet der Sprung hingegen in eine eigentümliche begriffliche Ortlosigkeit, in der wir ihn noch jetzt vorfinden. Kaum ein Biologe, Physiker oder Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts, der ihm nicht in irgendeiner Form nachgegangen wäre. Bleibt von diesen Bemühungen anderes als eine gewisse Ratlosigkeit darüber, was es mit den Sprüngen der Natur und unseres Denkens (um von den Sprüngen der Geschichte zu schweigen) eigentlich auf sich hat? Drei Beispiele mögen die Bandbreite theoretischer Probleme verdeutlichen: Wir haben uns daran gewöhnt einzugestehen, daß das Prinzip der Widerspruchsfreiheit Grenzen besitzt, daß sowohl der hiatus in concluendo (das Unterdrücken von Prämissen beim Schließen) als auch die logischen und semantischen Antinomien eine Produktivkraft besitzen können, die unsere Formalisierungen vor neue Probleme stellen. Wieviele akzeptable Auslassungen und Widersprüche eine wissenschaftliche Theorie verträgt, ohne ihren Erklärungswert ganz einzubüßen, ist keine einfach zu beantwortende Frage. Ein zweiter Komplex öffnet sich bei vielen Anwendungsproblemen, die eines Sinns für das Angemessene bedürfen. Gerade das Maß hat seit den antiken Sorites-Problemen, jenen vagen Übergängen zwischen den Phänomenen, zur Diskussion um Kategorien- und Begriffssprünge Anlaß gegeben. Wie müssen wir diese Vagheit verstehen? Ist sie eine Eigenschaft der natürlichen Sprache oder der Welt als solcher? Schließlich die Fragen nach der Kreativität der Natur, den Sprüngen von der anorganischen zur organischen Materie (erster Sprung) hin zu bewußten Lebewesen (zweiter Sprung), die schließlich auch noch normative Geltungsansprüche erheben können (dritter Sprung). Widersprüche, Vagheiten, Emergenzen - drei Aspekte, unter denen wir die Sprünge unserer Denkens selbst zu denken versuchen. Nicht selten jedoch gerät der Sprung hier in die Rolle eines unerklärten Erklärers. Seine linearen Vereinfachungen sollte man imAuge behalten. |
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Vertrauter sind die praktischen Dimensionen des Springens: sein Ausdruck von Freiheit, Selbstbestimmung und Spontaneität, von Mut, Entscheidung und Risikobereitschaft. Wie in der Natur- und Geschichtsphilosophie könnte man auch in der praktischen Philosophie auf eine prominente Reihe von Autoren hinweisen, die im Denken des Sprungs Wesentliches zu formulieren versuchen. Heute scheint bemerkenswerter, daß das Bild des Sprungs Teil eines gelebten Ethos geworden ist, das im Bewußtsein der Bodenlosigkeit und Gefährdung menschlichen Handelns eine gemeinsame Überzeugung hat. Die Furchtlosen, die mit Snowboard und Fallschirm aus dem Flugzeug springen oder der freie Fall am Seil mit dem Kick kurz vor dem Aufschlag geben diesem Lebensgefühl noch vergleichsweise harmlos Ausdruck. Die wahren Springer wählen den riskanten Weg in die unberührten Felder abseits der vorgeschriebenen Pisten und bezahlen dafür nicht selten mit ihrem Leben. Die zweite gemeinsame Überzeugung dieses Ethos könnte lauten: Wer springt, sollte keine Angst haben. Dem Selbstmordsprung als letztem Ausdruck der Verzweiflung korrespondiert längst ein ritualisiertes Springen als Ausdruck prinzipieller Furchtlosigkeit. |
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Kein Zufall, daß es der Sport ist, in dem sich derartiges ausprobiert. Hier ist der Sprung seit langem zuhause. Ballett, Eislaufen, Turm- oder Skispringen, Stabhochsprung oder Springreiten verfügen über allgemeinverständliche Codifizierungen von Sprungfiguren mit individueller Bedeutung. Solchen ästhetisierten Energiesprüngen werden in Literatur und Kunst die Schattenseiten gegenübergestellt, an denen sich noch am unmittelbarsten die Veränderungen unseres modernen Selbstverständnisses ablesen lassen. In Friedrich Hölderlins unvollendeter Tragödie Der Tod des Empedokles (1797) springt der antike Philosoph in den Ätna, um in einem ultimativen Akt die verlorene Einheit mit der Natur und dem Weltganzen wiederzufinden. Auch der abseitige Sprung Jeanne Moreaus in die Seine, ihr existentieller Aussetzer in Truffauts Film Jules et Jim (1961), gehört allmählich der Vergangenheit an. Die Sprünge von heute sind hingegen leicht, unverkrampft, elegant. Es sind Sprünge, die den Flug suchen und nicht den Fall. Die Montagen der Animationskultur schaffen es, Disparates in einer Weise ineinander übergehen zu lassen, die sich zwar noch den Formen der älteren Collage-Techniken bedient, ihnen aber eine neue Souveränität vermittelt. DJ- und Techno-Kultur haben komplementär dazu einen Umgang mit Tonalitäten und Rhythmen geschaffen, in der die Beherrschung der musikalischen Überlagerungen ebenso wie des scratching im Mittelpunkt stehen. |
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In solchen Sprüngen zelebrieren wir unser Bewußtsein für Ambivalenzen; mehr noch, wir vergewissern uns, nicht nur an die Grenzen, sondern auf die andere Seite unserer selbst gelangen zu können. Und damit ist immer auch ein Appell verbunden. Bill Viola liefert dafür eine prägnante Video-Installation. In The Reflecting Pool (1977-79) sieht man einen Mann aus dem Wald kommend auf ein Bassin zugehen, sich auf die Schwelle stellen und sich sammeln. Dann springt er, doch bleibt sein Körper in der Luft stehen, während sich die Welt um ihn herum weiter bewegt. Der plötzliche Sprung, die plötzliche Ruhe. Der Körper beginnt sich in der Luft aufzulösen. Langsam verschwindet er, und plötzlich: taucht der Mann wieder auf, steigt aus dem Wasser und geht in den Wald zurück. Nur wer den Sprung vollzieht, verfügt über die Erfahrung der anderen Seite. Für den Betrachter scheint die sichtbare Figur des Sprungs den Gehalt desselben zu verstellen, sie muß sich auflösen. Violas Installation verdeutlicht eine weitere Schwierigkeit im Umgang mit der Sprung-Metapher. Jeder theoretische Zugang droht das Eigentliche zu verfehlen. Denn der Sprung ist vor allem eine Form der reinen Praxis. |
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Guido Naschert
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