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no. 7: der sprung -> emergenz
 

Emergenz

Der Sprung von der Evolutions- in die Kommunikationstheorie und Ästhetik

von Thomas Wägenbaur

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Stand bei früheren Theorien der Evolution, Geschichte und Kommunikation die Suche nach Kausalität und Kontinuität im Vordergrund, stehen mittlerweile Theorien komplexer Prozesse zur Verfügung, die auf die Prinzipien von Emergenz und Sprung setzen. Hier ist das sprunghaft entstehende Ganze nicht mehr auf die kausale Summe seiner Teile reduzierbar, und Evolution und Kommunikation erweisen sich als durch nicht zu schliessende Lücken und die aus ihnen resultierenden Sprünge in Gang gehalten.

 

I. Emergenz

" ..., aber das ist eine sehr komplexe Angelegenheit", lautet die weit verbreitete Verweigerung, auf komplizierte Zusammenhänge weiter einzugehen. Inzwischen gibt es aber Theorien der Komplexität, die sehr wohl Phänomene beschreiben und auch erklären -- nämlich dann, wenn sie die Phänomene zu reproduzieren in der Lage sind --, vor denen traditionelle Rationalität und Logik insofern kapituliert haben, als sie sie immer unterdrückt haben. Die Chaostheorie ist ein Teilbereich dieser Theorien der Komplexität, die sehr genau angeben kann, in welchem Bereich und unter welchen Bedingungen Prozesse chaotisch verlaufen, und die Beispiele solcher, einst vernachlässigter Phänomene sind längst populär geworden. Sie reichen von den Turbulenzen beim Eingießen der Sahne in den Kaffee über die Entwicklung der Schweinepreise bis zum metaphorischen Flügelschlag des Schmetterlings in Japan, der bei uns das Wetter zum Kippen bringen kann. Ein anderer Teilbereich dieser Ansätze zu einer Theorie der Komplexität stammt aus der Evolutions- und Systemtheorie und wird verhandelt unter dem Begriff Emergenz.

Sowohl unter 'Evolution' wie unter 'System' versteht man einen rekursiven Prozeß von Selektion, Mutation und Re-stabilisierung, den z.B. die Genetik heute in Begriffe der 'Lektüre' faßt. Bei der Reproduktion der Erbsubstanz (Stabilisierung) wird die in ihr enthaltene genetische Information für die Weitergabe an die Nachkommen kopiert (Rekursivität). Bei der Synthese der Proteine -- die ihrerseits den Stoffwechsel lenken -- bestimmt eine Sequenz der vier Typen von Bausteinen der Nukleinsäuren die Reihenfolge der zwanzig Typen von Aminosäuren im Protein; dies entspricht einer Übersetzung der Information -- von der 'Nukleinsäureschrift' in die 'Proteinschrift' (Selektion). Mutationen -- wie sie etwa durch gelegentliche 'Fehler' beim Kopieren der Erbsubstanz entstehen -- verändern den Informationsgehalt. Quantitative Erweiterungen genetischer Information ergeben sich besonders dann, wenn durch einen solchen Fehler ein bestimmter Abschnitt der DNS zweimal hintereinander kopiert wird. Danach kann eine Kopie die ursprüngliche Funktion behalten (Re-stabilisierung), die andere aber durch Mutation und Selektion neue Funktionen entwickeln. Dieser Vorgang kann als Emergenz genetischer Information aufgefaßt werden (Gierer, 115).

Eine organische Einheit -- sei es die Zelle, der Mensch, eine Population oder ein gesellschaftliches System -- muß zu ihrem Selbsterhalt (Stabilisierung) Nahrung oder allgemeiner: Information aufnehmen (Selektion) und verändert sich dabei aber immer auch selbst (Mutation) -- wir werden älter, unser genetisches Programm ändert sich oder das politische System paßt sich dem ökonomischen an. 'Zeit' -- sei es unsere Herzfrequenz, Lebenszeit, der Produktionszyklus oder die Legislaturperiode etc. -- ist für jeden Prozeß der entscheidende Begriff seiner möglicher Beschreibung und 'Kausalität' der seiner Erklärung. Komplexe Phänomene sind nun aber häufig diskontinuierlich, d.h. ein homogener, sukzessiver Prozeß besteht eigentlich in der Heterogenität vieler simultaner Prozesse; und sie verhalten sich nicht kausallogisch, d.h. die simultanen Prozesse stehen in Wechselwirkung miteinander, sodaß der Gesamt-Prozeß mal diese mal jene Entwicklung nehmen kann, auf jeden Fall eine unvorhergesehene und auch eine, die nicht mehr aus ihrer Vorgeschichte ableitbar ist.

Emergenz ist also ein Synonym für 'Springen', wenn damit gemeint ist, daß ein Vorgang nicht kontinuierlich, sondern eben 'sprunghaft' verläuft. Derartige Prozesse lassen sich weder voraussagen noch ableiten und als solche sind sie bei weitem häufiger als vermutet. Besonders Evolutions- und Systemtheorie haben mit solchen Prozessen zu tun und deshalb kann man sie unterscheiden in eine weiche Variante, die Kontinuitäten sucht und eine harte, die nicht umhin kann, Sprünge zu konstatieren. Die eine verfährt genetisch oder diachron, die andere systematisch oder synchron. Einmal wird sogar bei Unvorhersagbarkeit Deduzierbarkeit behauptet und das Ganze ist reduzierbar auf die Summe seiner Teile, das andere Mal wird Nicht-Deduzierbarkeit konstatiert und das Ganze ist dann nicht mehr Summe seiner Teile. Beide Theorieansätze haben ihre Berechtigung, aber komplexe Phänome wie zum Beispiel der mittlerweile sprichwörtliche Ameisenhaufen beschreibt nur der zweite, harte Emergenzansatz.

Das Kollektiv des Ameisenhaufens tut Dinge, die sich die einzelne Ameise nie hätte träumen lassen: es bildet Brücken, zieht bei Gefahr mit dem ganzen Nest um, oder reproduziert nach jeder Störung die gleiche Arbeitsteilung -- ohne jede zentrale Steuerung. Das Ganze ist eben mehr als die Summe seiner Teile, d.h. es ist irreduzibel wie Bewußtsein auf Gehirn oder Leben auf organische Moleküle. Hier sei hier nur ein Vertreter einer 'neuen Philosophie der Biologie' zitiert:

"Die erklärende Reduktion behauptet, daß man alle Phänomene und Prozesse auf höheren hierarchischen Ebenen in Begriffen der Aktionen und Interaktionen der Einzelbestandteile auf dem niedrigsten hierarchischen Nieveau erklären kann. Im Gegensatz dazu behaupten die Organizisten, daß sich auf höheren hierarchischen Ebenen neue Eigensschaften und Fähigkeiten herausbilden, die man einzig und allein anhand der Einzelbestandteile auf genau diesen Ebenen erklären kann." (Mayr, 20)

Die diachrone Theorie, die vor allem von Karl Popper vertreten wurde, betont das 'Auftauchen' neuer Systeme mit neuen Eigenschaften in der Evolution und behauptet zugleich, daß die neu entstandenen Qualitäten prinzipiell nicht hätten vorhergesehen werden können. Im Unterschied zur diachronen ist die synchrone Theorie der Emergenz nicht an der Genese eines Systems interessiert, sondern an einer Analyse der Eigenschaften und des Verhaltens komplexer Systeme. Die Eigenschaften der aus Bestandteilen zusammengesetzten Systeme sind selbst in zwei Gruppen zu unterteilen: 1. in solche Eigenschaften, die sowohl die Systeme als auch einige ihrer Bestandteile haben, und 2. in solche, die nur die Systeme haben, aber keiner ihrer Bestandteile. Beispiele für Elemente der ersten Gruppe sind Eigenschaften wie 'ausgedehnt zu sein' oder 'eine Geschwindigkeit zu haben'; sie werden als neutrale oder auch als erbliche Eigenschaften (allerdings nicht im biologischen Sinn) bezeichnet. Beispiele für die zweite Gruppe sind u.a. 'die Eigenschaft zu atmen' oder 'eine Schmerzempfindung zu haben'. Diese werden als systemische oder kollektive Eigenschaften bezeichnet. Sie sind wiederum in resultierende und nichtresultierende, also die genuin emergenten Eigenschaften zu unterteilen.

Aber nicht nur Naturwissenschaftler und analytische Philosophen haben sich über emergente Phänomene Gedanken gemacht, sondern unabhängig davon auch die Kritiker der traditionellen Geschichtswissenschaft, die auch nur nach Kontinuitäten und Kausalitäten suchte. In diesem Sinne findet sich bei Nietzsche und Foucault diese Unterscheidung zwischen 'weich' und 'hart' und zwar als Unterscheidung zweier Zeit- und Geschichtsbegriffe. Foucault unterscheidet mit Nietzsche zwischen 'Herkunft' und 'Entstehen', also zwischen 'Prozeß' und 'Ereignis':

"Entstehung meint eher Auftauchen [émergence], das Prinzip und das einzigartige Gesetz eines Aufblitzens. [...] die Entstehung vollzieht sich immer innerhalb eines bestimmten Kräfteverhältnisses. Die Analyse der Entstehung muß das Spiel dieser Kräfte aufzeigen, ihren Kampf gegeneinander, ihren Kampf gegen widrige Umstände und auch ihren Versuch, in der Teilung wider sich selbst der Degeneration zu entrinnen und aus ihrer Schwächung neue Kraft zu schöpfen. [...] Die Entstehung ist also das Heraustreten der Kräfte auf die Szene, ihr Sprung aus den Kulissen auf die offene Bühne. [...] Niemand ist verantwortlich für eine Entstehung, niemand kann sich ihrer rühmen; sie geschieht in einem leeren Zwischen." (Foucault, 92f)

Foucault artikuliert die Unterscheidung zwischen der kontinuierlichen Herkunft und dem diskontinuierlichen Entstehen in der traditionell emphatischen Sprache der Lichtmetaphorik und der Epiphanie. Aber einer Metaphysik entsprach Foucault sowenig wie Benjamin, der regelrecht von einem "state of emergency" sprach:

"Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der 'Ausnahmezustand', in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern. Dessen Chance besteht nicht zuletzt darin, daß die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen. -- Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert 'noch' möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist." (Benjamin, 697)

Bei Foucault und Benjamin emergiert ein Begriff von Geschichte, der noch immer emphatisch formuliert und epiphan gedacht wird, der sich aber gegen Metaphysik und Telelogie richtet. Dieses paradoxe Verhältnis von Ausdruck und Inhalt führt bei beiden zu einer fast systemischen Konzeption von Zeit und Gedächtnis, die dann Linearität durch Rekursivität, Kausalität durch Selbstorganisation, den Grund durch den Zufall und Teleologie durch Autologie ersetzt:

"Der historische Sinn umfaßt drei Arten der Historie, die sich jeweils deren platonischen Spielarten entgegensetzen: die wirklichkeitszersetzende Parodie widerstreitet der Historie als Erinnerung oder Wiedererkennung; die indentitätszersetzende Auflösung stellt sich gegen die Historie als Kontinuität oder Tradition; das wahrheitszersetzende Opfer stellt sich gegen die Historie als Erkenntnis. In jedem Fall geht es darum, die Historie für immer vom -- zugleich metaphysischen und anthropologischen -- Modell des Gedächtnisses zu befreien. Es geht darum, aus der Historie ein Gegen-Gedächtnis zu machen und in ihr eine ganz andere Form der Zeit zu entfalten." (Foucault, 104)

Gemeinsam ist der Geschichtsphilosophie und der Evolutionstheorie -- übergreifend darf man dies aber auch von den Kultur- und den Naturwissenschaften behaupten -- die Infragestellung von Zeit und Kausalität. Nichts hat hier mehr seinen Grund bzw. seine Geschichte, von Entwicklung und Genese ist zu unserer großen Enttäuschung, die wir ja immer gerne alles in Geschichten packen, keine Rede mehr. Evolution baut nicht auf Ermöglichung im Laufe der Zeit, sondern auf Gelegenheiten. Ihre Zeit hat "die Form einer historisch einmaligen Gegenwart" (Luhmann 1997, 501), sie operiert "in einem Kontinuum der Fortsetzung von Gleichzeitigkeit" (ebd. 886). Das ist die Konzeption der Zeit Husserls: jede Gegenwart hat ihre eigene Vergangenheit und Zukunft. Erst dadurch, daß etwas als (von Anderem unterschiedene) Einheit beobachtet und zeitlich 'eingereiht' wird (ebd. 886f und 900ff), drängen sich Fragen nach Gründen und Entstehungsgeschichten auf. 'Grund' und 'Geschichte' sind also diachrone Beobachterkategorien und haben mit der Sache selbst und ihrer synchronen Prozeßhaftigkeit und ihrer 'Eigenzeitlichkeit' nichts zu tun.

Der Hinweis auf Foucault und Benjamin ist auch deshalb wichtig, weil die sprachliche Spannung in ihrem Werk als Entdeckung der doppelten Referenz des Individuums einerseits auf sich selbst, andererseits auf die Gesellschaft als sprachliches Phänomen direkt auf den Sprung von der Evolutionstheorie in Kommunikationstheorie und Ästhetik verweist. Einerseits ist das Individuum nur sich selbst zugänglich und kann seine Wahrnehmung nicht mit-teilen, sondern eben nur kommunizieren. Andererseits stellt die Gesellschaft eine Sprache zur Verfügung, in der dieses Individuum kommunizieren kann. Dort, wo, die Differenz der doppelten Referenz des Individuums, die die Kommunikation konstituiert, reflektiert wird, handelt es sich um ästhetische Kommunikation. Sie ist also Kommunikation zweiter Ordnung, die das Problem von Kommunikation immer mitartikuliert. Foucaults und Benjamins traditionelle Emphase bei gleichzeitiger Ablehnung der traditionellen Teleologie performiert diese Differenz als einer zwischen emphatischem Ausdruck und metaphysikkritischem Inhalt. Auch sie haben also den 'Wandel' bzw. den Sprung von einer weichen zu einer harten Evolutionstheorie, von der Kontinuität zum Sprung mitgemacht.

 

II. Der Sprung von der Evolutions- in die Kommunikationstheorie

Das gängige Kommunikationsmodell von Mitteilung eines Senders, Verstehen eines Empfängers und der Information als der Botschaft geht auf Karl Bühler zurück, der es selbst wiederum auf die Informationstheorie von Claude E. Shannon und Warren Weaver zurückführt. Dieses Modell haben Austin und Searle zur Sprechakttheorie ausgearbeitet und Jürgen Habermas hat mit einer Theorie des kommunikativen Handelns angeschlossen. Wie der Titel schon sagt, wird hier immer von einem handlungstheoretischen Verständnis von Kommunikation ausgegangen, das den Kommunikationsvorgang deshalb als gelingende oder nicht-gelingende Übertragung von Nachrichten, Informationen oder Verständigungszumutungen auffaßt. Ironischerweise wurde hier der mathematischen Informationstheorie ein trivialer (rauschfreier) und nicht der in ihr ebenso entwickelte nicht-triviale Kommunikationsbegriff (der das Störgeräusch berücksichtigt) entlehnt. Auf der Ebene von Beobachtungen erster Ordnung geht man davon aus, das sich die Nachricht gleich bleibt (kein Rauschen), auf der Ebene von Beobachtungen zweiter Ordnung geht man dagegen davon aus, daß sich die Nachricht verändert (Rauschen) und ein sozialer Vorgang, nämlich der der (Selbst-) Beobachtung, an die Stelle der Übertragung von Nachrichten tritt. Die Vorstellung vom einfachen Austausch von Information wird ersetzt durch die komplexere Vorstellung von 'struktureller Koppelung', bzw. 'Emergenz'. Auch Kommunikation verläuft eben nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft. Niklas Luhmann hat den Begriff emergenter Kommunikation ausführlich dargestellt:

"Ähnlich wie Leben und Bewußtsein ist auch Kommunikation eine emergente Realität, ein Sachverhalt sui generis. Sie kommt zustande durch eine Synthese von drei verschiedenen Selektionen -- nämlich Selektion einer Information, Selektion einer Mitteilung dieser Information und selektives Verstehen oder Mißverstehen dieser Mitteilung und ihrer Information."

Menschen koordinieren ihr Verhalten via Kommunikation, aber die Frage ist, wie kommt es zur Kommunikation? Macht man mit Luhmann eine Unterscheidung zwischen psychischen und sozialen Systemen bzw. Wahrnehmung oder Gedanken und Kommunikation, muß eine Antwort ungefähr folgendermaßen lauten: Bewußtseine stimmen ihr Verhalten aufeinander ein, indem sie sich wechselseitig so beobachten, daß sie die Selbstreferenz des beobachteten Bewußtseins unterscheiden von dessen Fremdreferenz, diese Differenz einspiegeln in das eigene Bewußtsein und unterstellen, daß dies beim anderen Bewußtsein sich genauso abspiele. Dabei werden Bewußtseinsereignisse produziert, die ihren Entstehungskontext nicht verlassen, sondern unaufhebbar Binnenereignisse im Prozeß der autopoietischen Reproduktion von Bewußtsein bleiben. An der Außenseite psychischer Systeme finden Ent-Äußerungen statt, Verhaltensproduktionen, die von paralinguistischen Signalen bis zur sprachlichen Mitteilung reichen. Der Umstand nun, daß die laufende Emission von Verhalten mehrfach digitalisiert wird, d.h. von verschiedenen Beobachtern zerlegt wird in Ereignisketten mit differenter Selektivität, dieser Umstand wird mit dem Ausdruck 'Emergenz' bezeichnet. Jemand sagt etwas, hört, was er sagt, und jemand anderer hört, was gesagt wird, und sagt selbst etwas. Damit setzt die psychisch/soziale Bifurkation ein: Die Bewußtseine 'weben', was sie hören (sehen etc.), in ihren je eigenen Sinnhorizont ein, und die Äußerung schreibt das, was eben geschah, in einen Selektionshorizont ein, der (z.B. als Text) von diesen Binnenhorizonten verschieden ist, weil er sich ersichtlich nicht aus Gedanken, dem Medium psychischer Systeme, zusammensetzt, sondern aus anderem 'Material' (z.B. Druckerschwärze auf Papier), das (wie die Schrift) andere Limitationen, andere Sinnverweisungen mit sich führt.

Daß diese Speicherung 'andersmaterialer' Ereignisse von psychischen Beobachtern als Emergenz gedeutet werden muß, zeigt sich (hier wie in anderen Fällen von Emergenz: etwa Bewußtsein gegenüber Hirn, Leben gegenüber organischen Molekülen) daran, daß der Verkettungstyp jener Ereignisse an keiner Zeitstelle gestattet, die Genese des aktuellen Ereignisses zu rekonstruieren.

In Richtung des Zeitpfeils könnte man von einem kausalistischen Aufbau von Komplexität sprechen: Jede Äußerung fußt auf der vorangegangenen und hat ihr Eigenmuster als Resultat selektiven Zugriffs auf das Vorereignis in struktureller Kopplung mit psychischen Systemen. Entscheidend ist, daß sie in Gegenrichtung des Zeitpfeils Beobachtungsartefakte konstruieren: die Präsentationen nicht mehr präsenter Ereignisse als Repräsentationen. Erst diese Ebene gestattet es, von Autopoiesis zu sprechen, von der Produktion aus Produktion; erst auf dieser Ebene konstituieren sich Ereignisse so, daß ihr Verkettungstypus gegen die Normalzeitrichtung Eigenkomplexität aufbaut, die sich irreduzibel verhält zum Komplexitätsaufbau der ersten Reihe. Diese Irreduzibilität ist hinsichtlich des Emergenztheorems das zentrale Argument. Sie entsteht durch beobachtungsbedingten Informationsverlust, denn jede Äußerung ist für psychische wie kommunikative Beobachtung lückenkonfiguriert. Für die psychische Beobachtung insofern, als sie nicht sieht, wie die anderen an Kommunkation beteiligten Prozessoren intern arbeiten, und für die kommunikative Beobachtung insofern, als das, was als Kommunikation zustande kommt, nicht die Kette der psychischen Ereignisse sein kann, sondern die durch die Unterscheidung von Mitteilung und Information entworfene Realität, die erst nach dem Verschwinden der durch sie bezeichneten Ereignisse medial repräsentiert und dann ihrerseits im Moment ihres Zusammenbruchs durch ein weiteres Ereignis der gleichen Art fortgesetzt, abgelöst, dementiert oder verstärkt wird.

Damit muß ein an sich einfacher Sachverhalt komplex beschrieben werden: Wenn psychische Systeme operational geschlossen sind ("wir können nicht in unsere Schädel hineinschauen") und wenn sie dennoch Verhaltensabstimmungen versuchen, werden die Abstimmungsprozesse eine lückenkonfigurierte Selektivität entfalten. Dabei sind die Lücken Beobachtungsnotwendigkeiten: gerade die blinden Flecken der Beobachtungen machen weitere Beobachtungen (von Beobachtungen) notwendig bzw. setzen die Emergenz von Kommunikation fort.

Die Auffassung von der Lückenkonfiguration von Kommunikation ist aus der ästhetischen Reflexion über Kommunikation bekannt, vor allem seit Kants Erhabenem und seinem Geniebegriff oder Goethes Inkommensurabilitätsästhetik bis hin zu Roland Barthes' Le Plaisir du texte. Kommunikation wird dann ästhetisch, wenn es um die Darstellbarkeit des Undarstellbaren geht. Wenn Kommunikation lückenkonfiguriert ist, dann reflektiert besonders ästhetische Kommunikation auf dieses paradoxe Moment der Kommunikation, das sie ermöglicht, aber selbst inkommunikabel ist. Literatur z.B. verschärft diese Kontingenz der Kommunikation oder vergrößert die Kontingenzspielräume, die sie ermöglichen, indem sie ihr Wissen um Kommunikation in die Kommunikation wiedereinführt. Im Alltag und in der Wissenschaft darf dies nie simultan geschehen, es würde sonst die Kommunikation 'sprengen'. Erst macht jemand eine Aussage, dann mag er sich widersprechen, aber er kann das kaum gleichzeitig tun wie die Literatur z.B. im Bild, das immer seinen eigenen Bildbruch enthält. Wenn wir die Dinge bezeichnen, nimmt jeder an, es bestünde eine Kontinuität zwischen Ding, Bezeichnetes und Bezeichnendes. Als ginge das semiotische Dreieck bruchlos auf. Die Literatur aber kehrt die Sprünge über die Brüche hervor, die dieses Dreieck erst konstituieren. Was wir hier mit dem Wort 'Sprung' als Sprung bezeichnen, darf immer schon etwas anderes sein als ein Sprung, es darf auch eine Metapher für wer-weiß-was, sein.

Die Wissenschaft muß solche Sprünge in ihrer Sprache und in den Prozessen, die sie analysiert, invisibilisieren und unentwegt wider besseres Wissen dort Kontinuität behaupten, wo Diskontinuität die viel bessere Beschreibung darstellt. Dies geschieht durch Vernachlässigung statistisch irrelevanter Daten, die aber als kleinste Ursachen noch immer größte Wirkungen erziehlen könnten, das geschieht durch die Arbeit mit dem Computer, der alle Daten letztendlich auf 0 und 1 reduzieren muß.

Eine 'Theorie der Emergenz' bzw. des Sprungs wäre aber doch eigentlich ein Widerspruch, denn die Diskontinuität als Prinzip leistet nicht, was eine Theorie leisten sollte, das Individuelle kontinuierlich unter ein Allgemeines zu subsumieren. Stattdessen kehrt die Emergenz die Ordnung um und macht das Problem zur Lösung. Immerhin! Emergenz stellt für die Theorie nur ein Problem dar, wenn man nach einer kausalen Erklärung sucht. Sucht man stattdessen nach einer emergentistischen Erklärung wird das Problem zur Lösung. Während man bei einer kausalen Erklärung bemüht sein wird, Störungen zu beseitigen oder zu vernachlässigen, erweist sich Emergenz gerade als Herausbildung einer Ordnung, die aus der Verarbeitung von Störungen hervorgegangen ist. Folglich ist sie keine Ordnung, die sich aus anderen Ordnungen speist und deshalb ist sie nicht ableitbar oder vorhersagbar. Und ganz sicher sind doch Störungen der Motor in Evolution, Kommunikation und Ästhetik.

 

autoreninfo 
Prof. Dr. Thomas Wägenbaur M.A. in Komparatistik, University of California/Berkeley; Ph.D. in Komparatistik, University of Washington/Seattle, 2000-2009 Prof. of Cultural and Cognitive Studies und Director of Liberal Arts an der International University in Germany/Bruchsal. Zur Zeit freier Dozent und Kommunikationsberater. Veröffentlichungen zu Literatur-, Kultur- und Medientheorie. Forschungsschwerpunkte: natürliche vs. künstliche Sprachverarbeitung (Philosophy of Mind); Postkolonialismus und Globalisierung; Kognition in der Entscheidungstheorie.

 

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