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no. 7: der sprung -> springer
 

Springer und Sprünge (in) der Literatur

Hoffmann, Dostojewski, Kafka und Bernhard

von Harald Neumeyer

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* druckbares
* diskussion

Selbstmord ist der Name mit dem wir den radikalen Sprung belegen, der nicht nur den vermeintlich nahtlosen Zusammenhang der Räume aufkündigt, sondern zudem den gleichmäßigen und stetigen Fortgang der Zeit unterbricht. Da erzählen überleben heißt, kann dieser Sprung in der Literatur nicht zur Sprache kommen. An den Wörtern hängend, überspringt die Narration notgedrungen diesen Nicht-Ort, der so letztlich nur als metaphorischer Sprung der Erzählung seine Spuren hinterläßt.

 

I. Metapher und Phänomen

Wissenschaftler, zumal Literaturwissenschaftler, legt ihnen dies doch ihr Gegenstand in besonderer Weise nahe, neigen schnell dazu, metaphorisch zu sprechen. Sprünge in der Literatur können dann alles sein -- nur eben nicht Sprünge, konkret vollzogen von einem Körper. Alles, was Kontinuität sprengt, Diskontinuität ankündigt und umsetzt, alles, was den Fluß des Erzählens und der Rede, der Bilder und Wahrnehmungen, des Erscheinens und der Erscheinungen stocken läßt, aufbricht und abbricht, kann als 'Sprung' verstanden werden. Zweifelsohne gibt es diese Sprünge; es gibt sie als Wechsel der Rede- bzw. Erzählinstanz, als Bruch in der Perspektive des Textes, als Aussetzen von Logik und Argumentation, als Schnitt im Handlungsablauf usw. Doch man redet, wenn man von solchen 'Sprüngen' redet, selbst schon in Bildern, wie sie die Literatur bemüht, um Literatur zu sein.

Nun gibt es allerdings nicht nur Sprünge in der Erzählung; es gibt auch erzählte Sprünge. Und um diese soll es mir -- zunächst -- gehen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil, um metaphorisch zu sprechen und um Modelle zu bilden, die Versicherung darüber guttut, was in und zu einem übertragenen Sinne modelliert wird.

Was heißt es, ein Springer zu sein? Was bedeutet es, einen Sprung zu tun? Da sind diese ganz kleinen Sprünge, die die umtriebigen Bildungsromanhelden von Wilhelm Meister bis Heinrich von Ofterdingen so gerne und so häufig tätigen: ein Aufspringen und Wegspringen, ein Hinspringen und Herspringen. Diese Sprünge zeigen etwas an, und in der Zeit der Erfindung des Unbewußten, gelesen von Lesern, die im Äußerlichen Innerliches 'divinieren', fungieren körperliche Bewegungen allemal als Zeichen für psychische Bewegungen. So kann Springen Dynamik und Neugierde genauso wie Unruhe und Unentschlossenheit ausdrücken -- Genaueres oder Definitives verrät (zumeist) der Kontext. Schreibbar wäre also eine Psychologie des Sprungs; entzifferbar würde die Psyche des Springers.

Doch ich verweile lieber bei diesen kleinen Sprüngen und suche sie phänomenologisch zu fassen. Dazu frage ich nicht danach, was sich in ihnen artikuliert, sondern danach, was sie artikulieren. Und das ist zuallererst nichts anderes als einen Ortswechsel, als eine abrupte, plötzliche, vielleicht von niemandem, nicht einmal vom Springer vorhergesehene Veränderung des Ortes. In einem Satz: Wer springt, ist von einem Moment auf den nächsten nicht mehr an dem Ort, an dem er zuvor war. Der Sprung 'befördert' den Springer und 'übersetzt' ihn von einem Ort zu einem anderen; mittels des Sprungs 'übertritt' der Springer den Ausgangsort, den ihm angestammten Platz, und katapultiert sich an einen Platz, an dem er nicht, an dem er womöglich niemals war, einen Platz, der neu, zumindest ein anderer als der vorherige ist.

Nun könnte man auch gehen oder laufen oder rennen, um Orte zu wechseln. Doch diesen Bewegungen fehlen zwei Aspekte, die allein dem Sprung eignen. Erstens erfolgt der Sprung in der Vertikalen; Gehen, Laufen und Rennen hingegen ereignen sich in der Horizontalen. Wer springt, bewegt sich immer nach oben -- oder nach unten. Wer springt, und dies markiert den Nullpunkt dieser Bewegung, kann aber auch an dem Ort landen, von dem er abgesprungen ist. Der Sprung stellt dann zwar eine Bewegung dar, eine Bewegung jedoch, die einen Ortswechsel nur andeutet, um ihn nicht zu vollziehen. Zweitens lassen das Gehen und seine Beschleunigungsformen den Ortswechsel im Gleichmaß eines Bewegungsablaufs ansichtig werden; anders gesagt: Die Füße finden immer wieder auf den Boden zurück. Der Sprung aber kommt nur von einem Ort her und kommt nur an einem Ort an -- dazwischen liegt lediglich der Sprung als Aufkündigung jeden festen Ortes, jeden fixierbaren Punktes, und seien es nur die selbst vorübergehenden und flüchtigen Zwischenpunkte, die jeder, der geht, läuft oder rennt, mit Notwendigkeit berührt. Der Springer ist tatsächlich 'in der Luft', und das heißt, daß er für die Dauer des Sprunges an keinem Ort, sondern zwischen den Orten ist. Der Springer läßt somit nicht mehr und nicht weniger sichtbar werden als die Abwesenheit eines fixierbaren Ortes, als die Distanz zwischen Ausgangs- und Endort, als das Zwischen, das sich zwischen den noch so nächsten Räumen auftut.

 

II. Erzählte Sprünge

Im Falle der beiden Bildungsspringer ist die Aufkündigung einer Einheit des Raumes nicht radikal, und dies nicht etwa deshalb, weil ihre Sprünge kurz sind. Der radikalste Sprung ist nicht der Sprung, dem es gelingt, die größte Distanz zu überbrücken. Bob Beamons nahezu Neunmetersprung in Mexiko City ist ein weiter Sprung, aber er verbleibt in Mexiko City, im Stadion, im Sandkasten und hat damit seinen Raum und seine Zeit in Raum und Zeit einer Olympiade. Ob Wilhelm, Heinrich oder Bob -- ihre Sprünge bleiben in dieser Welt. Der radikalste Sprung ist konsequenterweise der Sprung, der nicht nur den vermeintlich nahtlosen Zusammenhang der Räume aufkündigt, sondern zudem den gleichmäßigen und stetigen Fortgang der Zeit unterbricht. Der Name, mit dem dieser Sprung belegt ist, lautet Selbstmord.

Rodion Raskolnikow ist kein Springer. Doch während seiner Gänge durch Petersburg wird er Zeuge eines Sprunges, der das Hier und Jetzt zu verlassen sucht. Auf einer Brücke erblickt Raskolnikow neben sich "ein Weib (...) mit gelbem, länglichem, ausgemergeltem Gesicht und geröteten, eingesunkenen Augen." Dostojewski gibt sich offensichtlich alle Mühe, das, was nun folgen wird, den Sprung dieser Frau, zu motivieren: In ihr Gesicht schreibt er die Spuren eines Leidens und einer Krankheit. Anders scheint dieser radikale Sprung, der das Raum-Zeit-Kontinuum sprengt, nicht darstellbar zu sein -- es bedarf einer Begründung, es bedarf eines Grundes, um den Sprung in den Ab-Grund von Raum und Zeit wenigstens erzählerisch 'aufzufangen'. Die Frau springt:

"Auf einmal stützte sie sich mit dem rechten Arm auf das Geländer, hob das rechte Bein in die Höhe, schwang es über das Gitter, darauf das linke, und stürzte sich in den Kanal. Das schmutzige Wasser teilte sich und verschlang das Opfer für kurze Zeit; aber bald darauf kam die Selbstmörderin wieder an die Oberfläche und trieb langsam stromabwärts; Kopf und Füße hingen im Wasser; der Rücken ragte heraus; der Rock hatte sich zusammengeballt und lag, wie ein Kissen aufgeschwollen, auf dem Wasser."

Doch die Frau wird 'gerettet'. Einer jener dienstbeflissenen Schutzmänner, die auf die Vereitelung von Tod abgerichtet sind, stürzt sich ihr ins Wasser nach, zieht sie aus dem Kanal und bettet sie auf festem Boden: "Man legte sie auf die Granitplatten bei der Treppe." So wird bei Dostojewski alles unternommen, um den Sprung rückgängig zu machen -- noch der Wechsel vom Bild des Wassers, in dem Kopf und Füße untergehen, zum Bild von der Granitplatte, die dem gesamten Körper eine unterstützende und damit stabile wie fixierte Lage ermöglicht, bezeugt die erzählerische Intention, den Springer in Raum und Zeit zurückzuholen. Der radikale Sprung darf nicht sein: 'Rettung' ist der emphatische Ausdruck dafür, daß einer zwar gesprungen, doch nicht dort angekommen ist, wohin es ihn sehnte.

Aufgeregt hüpfen die Bildungsbeflissenen durch das 19. Jahrhundert: Wilhelm Meister und Heinrich von Ofterdingen finden einen späten Mitspringer im grünen Heinrich. Doch diejenigen, die zum radikalen Sprung ansetzen, bleiben vor wie nach Fjodor Dostojewskis Springerin in Schuld und Sühne die nicht gerngesehenen Springer. Um 1800 ist es Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, der im Sandmann seinen Nathanael von einem Ratsturm springen, ein Jahrhundert später ist es Franz Kafka, der im Urteil seinen Georg Bendemann von einer Brücke fallen läßt.

Zurückgekehrt in die Arme seiner Klara, genesen vom Wahnsinn -- zumindest diagnostiziert der Erzähler, daß "jede Spur des Wahnsinns verschwunden (war)" --, begeben sich Nathanael und Klara in der Mittagsstunde auf den Marktplatz ihrer Stadt. Der Ratsturm lockt "die beiden Liebenden"; sie steigen hinauf und "schauten hinein in die duftigen Waldungen". Doch die Trautheit des Ausblicks wird unterbrochen von einem neuerlichen Anfall des Wahnsinns. Nathanael war, so suggeriert es der Erzähler, niemals wirklich geheilt, denn den Keim des Wahnsinns trägt er immer noch in sich, und zwar ganz konkret in seiner Jackentasche:

"Nathanael faßte mechanisch nach der Seitentasche; er fand Coppolas Perspektiv, er schaute seitwärts -- Klara stand vor dem Glase! -- Da zuckte es krampfhaft in seinen Pulsen und Adern -- totenbleich starrte er Klara an, aber bald glühten und sprühten Feuerströme durch die rollenden Augen, gräßlich brüllte er auf wie ein gehetztes Tier".

Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Nachdem er wild gestikuliert und halb lachend, halb schreiend abgebrochene Sätze ausstößt, packt Nathanael Klara und will sie den Turm hinabstürzen. Lothar entreißt "dem Wütenden" die Schwester und bringt sie (ohne sich übrigens um Nathanael zu kümmern!) in Sicherheit. Nicht mehr zu retten ist indes der "Wütende" selbst:

"Die Menschen liefen auf das wilde Geschrei zusammen; unter ihnen ragte riesengroß der Advokat Coppelius hervor, der eben in die Stadt gekommen und gerades Weges nach dem Markt geschritten war. Man wollte herauf, um sich des Rasenden zu bemächtigen, da lachte Coppelius, sprechend: 'Ha ha -- wartet nur, der kommt schon herunter von selbst', und schaute wie die übrigen hinauf. Nathanael blieb plötzlich wie erstarrt stehen, er bückte sich herab, wurde den Coppelius gewahr, und mit dem gellenden Schrei: 'Ha! Sköne Oke -- Sköne Oke' sprang er über das Geländer. --
Als Nathanael mit zerschmettertem Kopf auf dem Steinpflaster lag, war Coppelius im Gewühl verschwunden."

Nathanaels Sprung wird vom Erzähler nicht nur als Raserei motiviert; Nathanaels Sprung wird in der Perspektive der Erzählung geradezu als Erlösung desjenigen präsentiert, der sich im Leben nicht mehr zurechtfindet. Damit ist die Radikalität des Sprunges gleich doppelt zurückgenommen. Einmal erscheint der Sprung, der aus der Welt hinausführt, als die Tat eines Wahnsinnigen, und das heißt als ein Akt, dem jegliche Intentionalität abhanden gekommen ist. Zum anderen veranschaulicht Nathanaels "zerschmetterter Kopf" drastisch, daß der Sprung, der das Raum-Zeit-Kontinuum sprengt, nur um den Preis einer Mortifikation des Körpers zu haben ist. Wer aber würde schon einen solchen Sprung wagen, dem er seinen Körper zu opfern hätte? Ja opfern müßte, denn, so vermerkt Valerio in Büchners Leonce und Lena lapidar, es gibt Erfahrungen, die sich einfach nicht machen lassen: "Es ist ein Jammer! Man kann keinen Kirchturm herunterspringen, ohne den Hals zu brechen." Wer also wagt den radikalen Sprung? Lediglich psychisch, so Hoffmann, oder physisch Kranke, so Dostojewski. Die psychisch wie physisch Gesunden aber wollen 'retten'; sie wollen die Springer im Leben, in der Kontinuität des Hier und Jetzt halten. In der Perspektive dieser kleinen Springer eignet dem Sprung, der Diskontinuität will und ist, etwas Pathologisches -- sei es, daß er aus einem 'krampfhaften Zucken', sei es, daß er aus 'eingesunkenen Augen' resultiert. Der Imperativ, daß man zu leben habe, sanktioniert den Sprung, der aus dem Leben führt; im Namen des Lebens wird der Sprung in den Tod als pathologisch ausgewiesen.

Der Imperativ, zu leben, diktiert noch um 1900 die Bilder, mit und in denen Literatur Untergänge gestaltet. Der Sprung, mit dem sich der Springer aus dem Leben katapultiert und damit diesem Imperativ verweigert, bleibt ein Skandalon. Bei Kafka wird der radikale Sprung jedoch nicht mehr pathologisiert; er wird zum 'Fall' abgeschwächt. Georg Bendemann hängt sprichwörtlich am Leben, so daß er den ihm von seinem Vater verordneten "Tode des Ertrinkens" nicht in einem Sprung zu bewerkstelligen vermag:

"Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang sich über, als der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit schwächer werdenden Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise: 'Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt', und ließ sich hinfallen."

Georg springt aus dem Tor und artikuliert darin die Verzweiflung desjenigen, der das Urteil selbst zu vollziehen hat. Doch von der Brücke springt er nicht. Die anfängliche Dynamik, mit der sich Georg über das Geländer 'schwingt' und die einen Sprung erwarten lassen, wird dadurch angehalten, daß der Springer sich am Geländer festkrallt. So mutiert der Sprung zu einem 'Sich-Fallen-Lassen', das in seiner Langsamkeit und Zögerlichkeit noch eben jenen Wunsch nach dem Leben ausdrückt, der für Georg den Sprung verunmöglicht. Daß der angedeutete Sprung nicht statthat, wird demnach von Kafka ausführlichst begründet: Georg will gar nicht aus dem Leben scheiden, vielmehr unterwirft er seinen Körper dem Urteil des Vaters. Durch diese Unterwerfung wandelt sich der Sprung, den die Selbstmörderin bei Dostojewski für sich wählt, zum 'Fall', in dem Georg wider seinen Willen das Todesurteil vollstreckt. All die Fragen, die sich an die Radikalität jenes Sprunges anschließen, der aus dem Leben führt, werden von Kafka dadurch zum Verstummen gebracht, daß auf der Brücke einer steht, der im Leben bleiben möchte -- und deshalb nur fallen kann.

Zwei Optionen also kennt die hier behandelte Literatur, sobald sie den radikalen Sprung thematisiert. Entweder erweist sich der radikale Sprung, findet er statt, als Sache eines psychisch bzw. physisch Kranken. Oder der radikale Sprung wird lediglich als Möglichkeit angedeutet, findet jedoch nicht statt, da er zum 'Fall' eines zum Tode Verurteilten gemacht wird. Sowohl Hoffmann als auch Dostojewski und Kafka suspendieren das Skandalon, das der Sprung ist, der die Kontinuität von Raum und Zeit aufbricht; sie suspendieren es dadurch, daß der Sprung als pathologisch bestimmt bzw. dann aufgehoben wird, wenn den Springer eine Sehnsucht nach dem Leben, nach Kontinuität beherrscht.

Was von 1800 bis 1900 ein Skandalon darstellt und entsprechend abgeschwächt werden muß, wird am Ende des 20. Jahrhunderts als 'Sensation' bezeichnet und kann scheinbar problemlos mitgeteilt werden. Unter dem Titel Ernst findet sich in Thomas Bernhards Stimmenimitator folgender Text:

"Ein Komiker, welcher jahrzehntelang allein davon gelebt hatte, komisch zu sein und der immer alle Säle, in welchen er aufgetreten war, bis auf den letzten Platz gefüllt hatte, war plötzlich für eine bayerische Ausflüglergruppe, die ihn auf dem Felsvorsprung über der sogenannten Salzburger Pferdeschwemme entdeckt hatte, die lange erwartete Sensation gewesen. Der Komiker behauptete vor der Ausflüglergruppe, er werde sich, so, wie er sei, in der Lederhose und mit dem Tirolerhut auf dem Kopf, in die Tiefe stürzen, worauf die Ausflüglergruppe in ein lautes Gelächter ausgebrochen war, wie gewohnt. Der Komiker soll aber gesagt haben, daß es ihm ernst sei und habe sich tatsächlich und augenblicklich in die Tiefe gestürzt."

Bei Bernhard steht der Sprung im Kontext einer Reflexion auf die Differenz von Komödie und Tragödie. Daß der radikale Sprung implizit als Tragödie verstanden wird -- schließlich gelingt es dem Komiker nur dann, das Gelächter zu unterlaufen und nicht Komiker zu sein, wenn er springt --, daß der Sprung also als tragisch begriffen wird, wiederholt die Zuordnungen der Jahrhunderte: Der radikale Sprung ist allein um den Preis des Lebens zu haben und im Namen des Lebens ist ein solcher Sprung eine Tragödie. Schwächt nun auch Bernhard die Radikalität dieses Sprunges ab? Der Sprung hat "tatsächlich und augenblicklich" statt, so daß nichts von seinem Plötzlichkeitscharakter zurückgenommen wird. Darüber hinaus fehlt jede Form einer vorangegangenen Pathologisierung des Springers, die die Radikalität dieses Sprunges hätte mildern können. Doch daß sich der Sprung "in der Lederhose und mit dem Tirolerhut auf dem Kopf" vor einer "bayerischen Ausflüglergruppe" ereignet, verleiht ihm komische Züge. Bernhards Lieblingsfrage, "Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?", ist auch in diesem Text nicht zu entscheiden. Daß Ernst -- paradoxerweise gerade deshalb, weil der Komiker ernst macht -- als komischer Text lesbar wird, läßt aus dem radikalen Sprung jedoch eine Farce werden.

Bernhards Text akzentuiert allerdings noch ein anderes Moment, das die Radikalität des Sprunges wieder einzuholen scheint: Es ist der einzige Text, der mit dem Sprung endet. Damit ist die Frage nach den Konsequenzen des Sprunges für das literarische Sprechen gestellt. Der radikale Sprung als die Aufkündigung des Raum-Zeit-Kontinuums markiert nicht nur eine Diskontinuität; der radikale Sprung als der Sprung aus dem Hier und Jetzt ist das Ende, das Ende von Raum und Zeit unserer Welt. Was nach diesem Sprung kommt, ist nicht von dieser Welt und also im strengen Sinne nicht mehr beschreibbar. Der radikale Sprung stellt damit genau die Grenze dar, an der die Literatur zu verstummen droht, an der die Literatur die Möglichkeit des Erzählens aufs Spiel setzt, ja sich prinzipiell um die Möglichkeit des Erzählens bringt.

 

III. Sprünge in der Erzählung

Wie verhalten sich zu diesem Befund die erzählenden Texte? Welches Ende beschreiben sie am Ende ihrer Springer? Konsequenterweise, und das heißt insofern die Protagonisten den Tod gefunden haben, müßten die Texte schweigen. Doch das tut, nachdem gesagt ist, daß gesprungen wurde, nur Bernhards Text. Alle anderen Texte sprechen weiter und fangen nun ihrerseits an zu 'springen' bzw. 'fallen zu lassen' -- und dies im metaphorischen Sinne.

Am leichtesten hat es zweifelsohne Dostojewski mit seiner Geschichte fortzufahren, denn sobald die Springerin gerettet ist, läßt sich auch weitererzählen. Weitererzählt wird aber nicht von der Frau, die den radikalen Sprung vollzogen hat, sondern -- und hier 'springt' der Erzähler von der Nebenfigur zu seiner Hauptfigur zurück -- von Raskolnikow und dessen Reaktion auf die Selbstmörderin: "Raskolnikow betrachtete das alles mit einem seltsamen Gefühl von Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit. Es überkam ihn ein Ekel davor." Womit gesagt ist, daß Raskolnikow kein Springer, der sich das Leben nimmt, und kein Retter, der anderen das Leben gibt, ist, denn wer "das alles" mit "Ekel" quittiert, dem ekelt es vor dem Sprung genauso wie vor der Rettung. Raskolnikow ist der Mensch, der den Tod zufügt, indem er der Pfandleiherin den Schädel spaltet. Damit erweist sich Raskolnikow gleichermaßen als ein pathologischer Fall; doch sein Fall verharrt in dem Raum-Zeit-Kontinuum, das man sezieren, analysieren, erzählen kann.

Auch die Erzählung Hoffmanns 'springt' am Ende nach dem Ende Nathanaels. Sie 'springt' gleich mehrfach, so als müßte sie von Nathanaels Sprung weit 'wegspringen' und diesen vergessen machen: Der Erzähler verschwindet in der Anonymität eines 'Man' und zwischen die Zeit des Sprunges und die Zeit des Weitererzählens wird eine ebenso klare Distanz gelegt wie zwischen den Raum des Sprunges und den Raum des Forterzählten. Selbst inhaltlich führt uns Hoffmann in ein Familienglück, das unter den Bedingungen eines Springers nicht erreichbar wäre:

"Nach mehreren Jahren [sic!] will man [sic!] in einer entfernten Gegend [sic!] Klara gesehen haben, wie sie mit einem freundlichen Mann Hand in Hand vor der Türe eines schönen Landhauses saß und vor ihr zwei muntre Knaben spielten. Es wäre daraus zu schließen, daß Klara das ruhige häusliche Glück noch fand, das ihrem heitern lebenslustigen Sinn zusagte und das ihr der im Innern zerrissene Nathanael niemals hätte gewähren können."

Doch ist die hier geschilderte Idylle nach der zuvor erzählten Katastrophe noch glaubhaft? Die Erzählung selbst macht deutlich, daß 'man' an diese Idylle glauben mag, daß ihr indes keine Wirklichkeit zukommt. Dadurch nämlich, daß der Erzähler in der Anonymität des 'Man' verschwindet, wird das "ruhige häusliche Glück" Klaras -- anders als der Sprung Nathanaels -- nicht vom Erzähler, sondern allein von einer anonymen Instanz verbürgt. Diese ist zudem in ihrer Wahnehmung von einem Begehren gesteuert: "will man (...) gesehen haben". 'Man' 'will' also vom Sprung in ein Bild des 'Glücks' 'wegspringen', um in der Erzählung von einer Idylle die Sehnsucht nach Harmonie und Kontinuität des Lebens zu stillen, die der erzählte Sprung ungestillt ließ. Daß der Erzähler -- gleich Nathanael -- in der Idylle abwesend ist, daß auch der Erzähler 'aus' der Geschichte 'springt', ist lesbar als seine Distanzierung von der räumlichen, zeitlichen und inhaltlichen Distanzierung von Sprung und Springer, die erzählt wird. Doch Distanzierung von der Distanzierung bedeutet nicht, daß der Erzähler die Position Nathanaels bezieht und ein Bund zwischen Nathanael und dem Erzähler als den beiden Springern geschlossen wird. Vielmehr besteht die Funktion dieser Distanzierung darin, den Realitätsgehalt des geschilderten Familienglücks infragezustellen und vorzuführen, daß die Idylle durch nichts garantiert ist als durch das Begehren nach Kontinuität des Lebens.

Das Ende von Hoffmanns Erzählung fällt demnach nicht mit dem Ende des Springers zusammen -- der Text 'überspringt' die Grenze seines potentiellen Verstummens. Dieser Sprung der Erzählung ermöglicht es, die bis dahin gültige Perspektive, wonach der Springer ein pathologischer Fall ist, entschieden zu relavieren, ohne dadurch den Springer selbst in (s)ein Recht zu setzen: Im 'Absprung' vom Sprung des Nathanaels kann gezeigt werden, daß der Imperativ, daß man zu leben habe, nicht auf Vernunftgründen ruht, sondern Effekt eines Begehrens ist, das keine andere Wirklichkeit hat, als daß es begehrt.

Kafka fügt dem Ende Georgs gleichfalls einen letzten Satz an, so daß das Ende des Protagonisten nicht mit dem Ende des Erzählens zusammenfällt: "In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr." Der Blick des Erzählers ist nicht bei demjenigen, der sich, da er nicht springen kann, fallen läßt, sondern bleibt auf die Brücke gerichtet. So verharrt der Blick eben dort, wo er die ganze Zeit war. Dadurch jedoch, daß Georg sich vom Geländer hat fallen lassen, ist er aus dem Blick des Erzählers und damit aus dem Schlußbild gefallen.

Wenngleich der Blick des Erzählers nicht 'springt', so praktiziert Kafkas Text sehr wohl einen Sprung, indem er auf den Satz vom Fall Georgs noch einen Satz folgen läßt, einen 'Nach-Satz' macht und über den Punkt 'hinwegspringt', der das Ende Georgs markiert. Dieser 'Nach-Satz' ist kein radikaler Sprung, denn er behauptet sogleich die Kontinuität des Erzählten, ja sogar eine Gleichzeitigkeit zum Fall Georgs: "In diesem Augenblick". Dieser 'Nach-Satz' 'springt' auch nicht zu einer anderen Person (Dostojewski) oder in einen anderen Zeit-Raum (Hoffmann). Kafkas 'Nach-Satz' bietet vielmehr einen Bedeutungssprung an: Die Formulierung von einem "geradezu unendlichen Verkehr" eröffnet die Möglichkeit einer metaphorischen Lektüre. In einer solchen Lektüreperspektive ist der "unendliche Verkehr" nicht als das anhaltende Vorbeifahren der Autos, sondern als "Verkehr" mit dem Unendlichen lesbar. Damit aber fällt Georg nicht einfach aus Raum und Zeit. Sein Fall wird weniger als das Ende von Raum und Zeit denn als die Kontaktaufnahme mit einem Jenseits von Raum und Zeit verstanden. Die Brücke, die in der wörtlichen Lektüre den Ort bezeichnet, von dem gesprungen bzw. gefallen wird, avanciert in der metaphorischen Lektüre zum Bild für die Verbindung, die durch den Fall Georgs hergestellt wird. Kafkas 'Nach-Satz' fordert demnach den Sprung, nachdem er seinen Protagonisten hat fallen lassen, vom Leser -- dieser hat von einer buchstäblichen zu einer figurativen Lektüre zu 'springen'. Vollzieht der Leser diesen Sprung, so ist derjenige, der sich in der wörtlichen Bedeutung von der Brücke fallen ließ und gefallen ist, 'aufgefangen'. Denn nun kann Georgs Fall als die Brücke in ein Jenseits gedeutet werden. Und nun ist mit der Brücke als Metapher zugleich ein traditioneller Topos für die Verbindung von Räumen aufgerufen, so daß selbst das Ungewisse des Falls, sein Zwischen den Orten, in einem Bild gebannt ist. Um dem Leser jedoch diesen Sprung zu ermöglichen, hat auf den letzten Satz über Georg noch ein letzter Satz zu Georg zu folgen.

Die Geschwätzigkeit der Literatur, ihr am Ende anhaltendes und fortdauerndes Erzählen, zeugt vom Überleben. Darin bildet Bernhard keine Ausnahme. Denn selbst wenn bei ihm am Ende "tatsächlich und augenblicklich" vom Ende die Rede ist -- so ist davon eben die Rede, und zwar die indirekte, was bedeutet, daß ein Ausflügler berichtet, daß der Sprung geschehen ist. Damit allerdings ist auch bei Bernhard der radikale Sprung bereits ein vergangenes Ereignis und der gesamte Text nichts anderes als drei Sätze nach dem Sprung aus Raum und Zeit -- als ein 'Wegspringen' vom Sprung. Den radikalen Sprung mitvollziehen bzw. nachvollziehen hieße für die Literatur, aus dem Fluß des Erzählens ins Weiß des unbedruckten Papiers zu springen. Diesen Sprung praktiziert indes kein Text, immer noch haben sie, wenngleich mit kleinen Sprüngen, etwas zu erzählen. Es ist, als hielten sich die Texte -- gleich Kafkas Georg am Geländer -- an ihren Worten fest und ließen sich gegen Ende lediglich ein wenig 'fallen'. Der radikale Sprung darf offensichtlich weder als erzählter, noch als Sprung der Erzählung sein -- es würde, so vermute ich, das System des Erzählens zusammenbrechen, das, so argumentieren die von Hoffmann bis Bernhard erzählten Enden, nur unter den Bedingungen einer gewissen Kontinuität an sein Ende geführt werden kann.

Es paßt in diesen Zusammenhang, daß der Sprung selbst niemals geschildert wird. Wir sehen Dostojewskis Selbstmörderin beim Sprung von der Brücke und beim Untertauchen im Wasser; wir sehen Nathanael als Leichnam auf dem Pflaster liegen; wir sehen Georg beim Ansetzen zu einem Sprung, der zu einem Fallen wird; und wir sehen Bernhards Komiker weder beim Absprung noch bei der Landung, sondern uns wird nur gesagt, daß er springt. Auch wenn der Sprung stattfindet, so wird uns in allen Beispielen eines nicht erzählt: die Bewegung des Sprunges, das Zwischen, das zwischen den Orten liegt. Warum aber imaginiert Literatur genau diese Phase nicht? Darüber ließe sich trefflich spekulieren. Ich möchte stattdessen die Frage anders stellen. Was gestaltet Literatur nicht, wenn sie genau diese Phase nicht formuliert? Sie verweigert sich dem Nicht-Ort des Sprungs -- dieser wird 'übersprungen' und darin artikuliert sich der (metaphorische) Sprung der Erzählung angesichts der erzählten (konkreten) Sprünge.

 

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