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no. 7: der sprung
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Till Eulenspiegel aß keine BücherFrançois Forestier: La Manducation |
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von Kirsten Dickhaut |
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François Forrestiers erster Roman La Manducation rührt an die Grundängste all derer, die versuchen, im Akt des Lesens und Schreibens der wuchernden Flut des geschriebenen bzw. gedruckten Wortes Herr zu bleiben. Sich die alte Metapher des Lesens als Nahrungsaufnahme zunutze machend, schildert Forrestier die Apokalypse eines Lesers, der im Verschlingen der Lektüre schließlich sich selbst verliert. |
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Till Eulenspiegel kennt man in Frankreich seit dem 15. Jahrhundert, und sein Name, der teilweise als Uylenspiegel wiedergegeben wurde, bildet die Grundlage für das Adjektiv 'espiègle'. Zwar wird diese literarische Figur im 1981 erschienenen Erstlingsroman von François Forestier keineswegs thematisiert, wie man vermuten könnte, jedoch wird in La Manducation genau die sprachliche Struktur verwendet, die auch Hermann Botes Eulenspiegel berühmt machte: |
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Als Eulenspiegel sich einmal bei einem Kaufmann als Koch verdingte, sagte man ihm, er solle früh morgens den Braten aufsetzen und kühl und langsam braten. Daraufhin steckte der neue Koch den Braten an einen Spieß und legte ihn zwischen zwei Fässer Einbecker Biers in den Keller, damit er kühl liege und nicht anbrenne. Ein anderes Mal begann Eulenspiegel bei einem Schmied als Geselle und hatte die Rolle übernommen, den Blasebalg kräftig zu treten. Der Schmied hatte dafür eine Redensart: "Folge mit den Bälgen nach!" Nachdem er seinen Gesellen angewiesen hatte, ging der Schmied in den Hof, und Eulenspiegel trug ihm den Balg hinterher, um sich seines Wassers zu entledigen. Eine andere, sehr bekannte Historie stellt die Episode dar, in der Eulenspiegel als Bäcker seinen Meister fragte, was er denn backen solle und dieser ihm antwortete: "Was pflegt man denn zu backen? Eulen oder Meerkatzen!" Und selbstverständlich ging der Bäckergeselle in die Backstube und formte und backte Eulen und Meerkatzen. |
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Bei den Handwerksschwänken, immerhin ein Drittel aller Historien Botes, führt Eulenspiegel jedesmal eine Redensart oder einen Befehl seines Meisters wörtlich aus, so daß das Arbeitsmaterial verdirbt, unbrauchbar oder ihm zumindest Schaden zugefügt wird. Sogenannte feststehende Redewendungen oder metaphorische Aussprüche werden folglich wörtlich genommen, ja ihr übertragener Sinn wird sogar ignoriert. Diese Struktur der literalen Verwendung einer ursprünglichen Metapher stellt ebenfalls ein zentrales Element von La Manducation dar. Überspitzt formuliert ließe sich der Roman von François Forestier somit als Eulenspiegelei bezeichnen. |
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Doch sei zunächst einmal der Autor dieses zeitgenössischen Romans kurz vorgestellt. François Forestier selbst hat mir freundlicherweise die Angaben zur Verfügung gestellt, da biographisch nur wenig über ihn veröffentlicht wurde. |
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François Forestier wurde an Weihnachten, genauer am 25. Dezember 1947 geboren. Seine polnischen Eltern haben es ihm ermöglicht, zweisprachig --- mit Französisch und Polnisch -- aufzuwachsen. Er besuchte das Lycée Montaigne in Paris und entdeckte im Alter von 16 Jahren die Cinémathèque. In dieser Zeit las er viel von Proust und Céline und schaute vier (!) Filme pro Tag. Nachdem er 1972 arbeitslos wurde, begann er bei Le Monde als freier Journalist und 1975 bei L'Express als cinéma critique zu schreiben. Nach großem Erfolg wechselte er 1993 zu Le Nouvel Observateur. François Forestier publiziert nicht nur unter diesem Pseudonym, sondern er bedient sich auch anderer Namen und hat mittlerweile für fast alle französischen Zeitungen und Zeitschriften geschrieben. Nach La Manducation veröffentlichte er 1993 einen zweiten Roman unter dem Titel Blue Moon sowie zwei Filmchroniken in Buchform. Jeden Freitag abend kann man ihn im Pay-TV Canal+, in der uncodierten émission cinématographique sehen. Seine größte -- verständliche -- Angst ist, wie er schreibt, nicht alle Bücher lesen zu können, die ihn interessieren. |
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Bemerkenswerterweise wurde sein Erstlingsroman, La Manducation publiziert, ein Jahr nachdem Umberto Eco mit Il Nome della Rosa bereits das apokalyptische Thema der Bibliophagie aufgegriffen hatte. Eine andere offensichtliche Gemeinsamkeit stellt das Motiv der Bibliothek dar, das beide Texte zentral thematisieren. Die Faszination, die der Protagonist in La Manducation für Bücher hegt, ist so ausgeprägt, daß er sagt, "Mein Leben hätte ein Buch sein können"[Anm. 1] . Der Held wird gemäß des "änigmatischen Introitus" -- wie der französische Literaturtheoretiker und Strukturalist Gérard Genette diese Art des Romananfangs nennt -- vieler Romane des 19. Jahrhunderts eingeführt, bei denen, wie beispielsweise in La peau de Chagrin von Honoré de Balzac, der Held lange Zeit wie ein Unbekannter betrachtet und beschrieben wird, d.h. man weiß von ihm nicht genau, wer er eigentlich ist. In Abweichung zum Genetteschen Raster handelt es sich bei Forestier nicht um einen Ich-Erzähler. In der zeitgenössischen französischen Literatur hat sich ein Spiel mit dieser Art des Romaneinstiegs entwickelt, der bewirkt, daß die Protagonisten sich nicht nur anfänglich rätselhaft zeigen, sondern, daß ihnen nie mehr als das 'je' oder wie in La Manducation ein 'il' zur Bezeichnung zugestanden wird. Romane wie L'Ombre de mémoire von Bernard Comment (1991, dt.: Diener des Wissens) arbeiten ebenfalls mit dieser Namenlosigkeit ihrer Helden. |
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In dem in drei Teile gegliederten Roman von François Forestier ("L'objet de nos recherches", "Le royaume de Pluton" und "La Manducation") wird ein junger, männlicher Protagonist entworfen, der eine Vorliebe für Lesen und Bücher hegt, die derart ausgeprägt ist, daß sie zur Obsession wird und er sich selbst nur noch als Gefangener der Bücher begreift. Gleichzeitig glaubt sich der Protagonist durch das viele Lesen berechtigt, nun selbst schreiben zu können. Gleichsam im Sinne einer produktiven Intertextualität wird sein Schreibprogramm geschildert: |
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"Bücher, Bücher, Bücher. Durch wiederholtes Lesen glaubte er sich autorisiert, zu schreiben. Was könnte einfacher sein? Schließlich genügte es, die tausendfach gelesenen, vom Blick abgenutzten Worte einer anderen Ordnung folgend erneut zu plazieren. Seine universitäre Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß das Schreiben nicht viel mehr als eine einfache Operation, eine Wiederherstellung darstellte."[Anm. 2] |
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Die Hauptfigur 'il' beschließt, einen Roman, den er Le jardinier immortel nennt, zu schreiben. Dieser Text wird in insgesamt neun Einschüben in die Lebensgeschichte des Protagonisten integriert. Ob der so eingefügte Roman allerdings als vollständig zu betrachten ist, muß offen bleiben, da er auf Handlung als Strukturmerkmal verzichtet. Im Lebensbericht La Manducation, dem Haupttext sozusagen, wird hingegen, wenn auch teilweise für den Leser unmotiviert, Handlung durchaus erkennbar. So lernt die Figur 'il' die Bibliothekarin Anne bei Recherchen in der 'salle des catalogues' der Pariser Nationalbibliothek kennen. Sie haßt Bücher -- übrigens ebenfalls ein Charakteristikum vieler Bibliothekare in zeitgenössischer Literatur -- und mag Bilder nur in Form von Porträts und Stilleben. Nachdem der Protagonist in der Bibliothek von Auxerre eine Abbildung von Giuseppe Arcimboldos Gemälde Der Bibliothekar von 1566 gesehen hat und nicht wieder vergessen kann, reist er mit seiner Freundin nach Stockholm, um sich das Original anzuschauen. Nach der anschließenden Trennung der beiden Protagonisten wird die weibliche Figur nicht mehr erwähnt. Für den Protagonisten 'il' beginnt daraufhin eine 'descente aux enfers'. |
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Zentral für die semantische Textstruktur und die Betrachtung des Bildes Der Bibliothekar im schwedischen Schloß Skoklosters, das der Roman in Form einer Bildbeschreibung integriert, ist die Metapher, die auch den Titel des Werks erklärt. So wie man im Deutschen davon spricht, daß ein Buch so gut war, daß man es 'förmlich verschlungen hat', so verwendet das Französische den Begriff des 'dévorer un livre'. Beide Redewendungen entsprechen einander. Dieser zumindest in der Alltagssprache nicht mehr als Metapher erkennbare Ausdruck, verwandelt sich im Roman sukzessive von einer Trope in eine wörtliche Aussage. Das Bücherverschlingen nennt der Erzähler metaphorisch 'la manducation', was eigentlich die Essenshandlung per se bezeichnet, nämlich das Kauen, Einspeicheln, Schlucken. |
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Vor dem hier skizzierten Hintergrund läßt sich leicht die Faszination erkennen, die ein manieristisches Gemälde mit Büchern auf den Protagonisten auszuüben imstande ist. So glaubt 'il' in eben diesem Bibliothekar von Arcimboldo, einen Seelenverwandten gefunden zu haben. Entsprechend seiner Begeisterung für Bücher und Schrift wird das Bild beschrieben und nicht als Abbildung integriert. Die Beschreibung selbst stellt dabei einen Versuch dar, das Visuelle durch Sprachliches, Bild durch Schrift zu ersetzen, um das Sujet des Gemäldes gleichsam durch die Augen des Protagonisten funktional verändern zu können: Ein aus Büchern bestehender wird für die Hauptfigur zu einem von Büchern ernährten Körper. Die Bildbetrachtung wird damit zum Auslöser einer 'descente aux enfers', einer Metamorphose des Protagonisten in einen Bibliophagen. |
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Die Speisemetaphorik, die den Leseprozeß als Einverleiben metaphorisiert und das Gedächtnis analog als Magen versinnbildlicht, hat eine lange Tradition, die ihre Wurzeln in der Apokalypse und beim antiken Rhetoriklehrer Quintilian, in Frankreich vor allem bei François Rabelais hat. Der Schweizer Literaturprofessor Michel Jeanneret hat diesem Aspekt eine ausführliche Studie gewidmet, die sich -- seinem Spezialgebiet entsprechend -- ausschließlich mit Texten der Renaissance befaßt (Des mets et des mots, 1987). Eine ausgefeilte Diätetik gehört in manchen literarischen Fiktionen ebenfalls zu diesem Bereich. Um einen drohenden Gedächtnisverlust zu verhindern, werden dann beispielsweise bestimmte Speisen verabreicht. Durch die Lektüre gewinnt man somit geistige Nahrung, die im Gedächtnis, respektive Magen landet. Bei zunehmender Vergeßlichkeit wird ebenfalls das sprachliche Bild umgekehrt und das Gedächtnis realiter als Magen verstanden, die es beide sozusagen mit Speisen wieder in Gang zu bringen gilt. Das Ineinandergreifen der beiden Bereiche -- Gedächnisspeise und Nahrungsmittel -- hat somit Tradition und scheint geradezu auf literales Verständnis der jeweiligen Metapher gewartet zu haben, so möchte man sagen. |
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Auch wenn ein ironisches, zum Teil sarkastisches Augenzwinkern zwischen den Zeilen, vergleichbar mit dem ironischen Gestus von Hermann Bote, durchaus erkennbar wird, so hinterläßt La Manducation am Ende kein Gefühl der Leichtigkeit, sondern ein Unbehagen. Der durch die Metapher strukturierte Roman endet mit dem bekannten Bild aus der Offenbarung des Johannes, wonach sich der Apostel das Buch einverleibt. In der Passage des französischen Texts -- ein Zitat aus "Das verschlungene Büchlein" -- heißt es: "[...] Ich nahm also das Buch aus der Hand des Engels und verschlang es."[Anm. 3]. Analog dazu löst der Protagonist von La Manducation im letzten Abschnitt des Romans seine Bibliothek(sordnung) auf, setzt sich auf einen Bücherstapel, führt ein Buch zum Mund und beginnt, -- wörtlich -- es zu verschlingen, auch wenn ihn dies kein Handwerksmeister geheißen hat. Es wird folglich einem anderen Text Vorschub geleistet, dem zu gehorchen der Protagonist beschlossen hat. Als er die bücherfressenden Insekten anspricht und ein Buch zum Mund führt, beginnt die Apokalypse des Protagonisten. Den Leser befällt ein Schaudern, das noch durch die Tatsache verstärkt wird, daß Forestier seinen Text durch einen 'fremd-eigenen' aus der Apokalypse enden läßt und somit eine selbst getroffene Aussage über den Ausgang des Romans verweigert. |
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Till Eulenspiegel hat niemals jemand beauftragt, ein Buch zu verschlingen. Dennoch bleibt das Spiel mit der sprachlichen Struktur, dem wörtlichen Verstehen und der realen Umsetzung eine offensichtliche Entsprechung, eine beiden Texten inhärente Eulenspiegelei. |
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