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no. 11: virtuelle städte -> editorial
 

editorial

Spätestens Mitte der 80er Jahre war aus der von Alexander Mitscherlich sprichwörtlich gemachten Unwirtlichkeit der Städte der Nachkriegszeit eine Unwirklichkeit derselben geworden. Auf die Zerstörung urbanen Lebens durch das Auto und eine Baupolitik, die im Deutschland der 50er und 60er Jahre nach Meinung vieler Denkmalschützer beinahe mehr Schaden angerichtet hatte als der zweite Weltkrieg, folgte nun die Ausfahrt aus der Stadt auf eben jener Ausfallstraße, deren Bau den Weg in die Stadt allererst geebnet hatte. Die Innenstädte waren in Europa ebenso auf dem Rückzug wie in den USA. Die Vorstädte breiteten sich aus und machten den städtischen Zentren ihre kulturelle Vormachtstellung streitig. Demographische Abwanderung bedrohte die traditionelle Signifikanz der Städte und wurde bestenfalls durch Bodenreformen und Eingemeindungen kaschiert. Der in der Moderne zum Motor des Fortschritts und Wahrnehmungsmaßstab gewordenen Stadt drohte, wenn nicht der Tod, so zumindest eine schwere Identitätskrise. Dieser Umschlag ist von mehr als nur ästhetischer Bedeutung (das Zeitalter der großen Stadtromane ist jetzt nurmehr eine Erinnerung). Im Diskursfeld Stadt kreuzen sich nämlich stets ganz konkrete Lebensbedingungen mit übergreifenden gesellschaftlichen Prozessen, deren Ausdruck Stadtarchitektur und -planung sind. Die jüngeren Verwerfungen auf diesem Feld zeigen demnach nicht nur an, daß Leute einfach lieber 'im Grünen' wohnen, wenn sie es sich denn leisten können, sondern daß die Stadt als zentraler Punkt und kleinster gemeinsamer Nenner für so etwas wie 'Gemeinschaft' kulturell und sozial an Gewicht zu verlieren scheint.

In den letzten fünfzehn Jahren hat das Phänomen der Virtualisierung der Städte zusätzlich zu den ohnehin vielerorts im Fortschreiten begriffenen Prozessen der Dezentralisierung durch die elektronische Revolution eine neue Qualitätsstufe erreicht. Die Ausbreitung der Kommunikation, abgelöst von örtlicher Bindung, stellt die Städte grundsätzlich in Frage, beispielsweise als ökonomische Faktoren. Der Standort, das Grundkriterium für das Errichten von Städten seit jeher, wird irrelevant oder zumindest stark flexibilisiert. Lagerhäuser und Vertriebszentren müssen weiterhin adäquat gelegen sein, um den Transport realer Waren kostengünstig zu machen. Die virtuellen Organisationsstützpunkte aber können überall dort sein, wo es ein paar Glasfaserkabelstränge gibt. Die Träumer mit Dollarzeichen in den Augen sind sich angesichts solcher Ortlosigkeit mit den Radikaldemokraten der Information einig, daß die Verlagerung der Stadt auf die virtuelle Ebene utopisches Potential birgt: der eine hofft -- oder hoffte jedenfalls bis Mitte des Jahres 2000 -- auf Bäder im Geldspeicher, der andere auf neue Formen sozialer Interaktion.

Hoffnungen dieser Art sind dabei mit Vorsicht zu genießen, wie mehrere Beiträge in dieser Ausgabe zu zeigen versuchen. Allerdings kann es bei einer kritischen Erwägung virtueller Stadtutopien kaum um eine rückwärtsgewandte Verteidigung einer 'Stadtgesellschaft' im Sinne von Kollhoff und Konsorten gehen, die in einer Neuen Mitte Berlin das Heil der guten alten Stadt zu beschwören versuchen. Verdichtung soll gegen die Verdünnisierung der Stadt helfen, und sei es auf Kosten einer gleichzeitigen 'Verdichtung' der architektonischen Bandbreite, wie sie Philipp Oswalt anprangert. Die hier zu beklagende desaströse Provinzialität, Ausdruck von Retro-Sehnsüchten, die auch in anderen über ganz Deutschland verteilten Altstadt-Imitaten zu bewundern sind, ist eine zweifelhafte Reaktion auf die prekäre Situation der Stadt -- und letztlich kaum mehr als ein bewußtes Wegschauen. Der New Urbanism in den USA entspringt einem vergleichbaren Impuls, wenn man sich hier auch nicht über Hauptstädte mit problematischer Vergangenheit hermacht, sondern Geschichtsprothesen quasi aus dem Nichts heraus erzeugt.

Wem der horror vacui nicht in solcher Weise den Blick trübt, der sieht eine komplexe Verquickung von Virtualität und Realität im gegenwärtigen Stadtbild. Die Einflüsse laufen dabei in beide Richtungen: Computeroberflächen kommen zwecks Orientierung nicht ohne Anleihen bei der traditionellen Stadt aus, und die 'reale' Architektur nicht mehr ohne ihr virtuelles Gegenstück. Rem Koolhaas hat bereits Konsequenzen gezogen und betreibt neben seinem Rotterdamer Architekturbüro OMA (Office of Metropolitan Architecture) nun auch das AMO (spiegelbildliches Kürzel ohne Bedeutung), dessen Arbeitsgebiet laut Koolhaas das Ungebaute ist, d.h. alles, was sich nicht in umbautem Volumen niederschlägt. Die Projekte des AMO (unter anderem für den Modekonzern Prada und den Entertainmentkonzern Universal) unterminieren ein Grundprinzip der Architektur, das im Glauben besteht, die Antwort auf jedes städtebauliche Problem bestehe in der Schaffung von mehr Gebäuden und mehr Infrastruktur.

In anderen Teilen der Welt ist die Stadt derweil alles andere als auf dem Rückzug: die beiden am schnellsten explodierenden Städte der Welt sind Riad (Saudi-Arabien) und Khartoum (Sudan), beide mit mehr als fünf Prozent jährlichem Wachstum. Bombay und Lagos werden bis 2015 um die 25 Millionen Einwohner haben, und das von einer Gruppe um Koolhaas untersuchte Großraumgebiet am Pearl River Delta in China wird von derzeit 12 Millionen Einwohnern auf etwa 36 Millionen im Jahr 2020 anschwellen. Hier und anderswo warten also sehr reale stadtplanerische Herausforderungen, zu großen Teilen noch abseits der virtuellen Welten, deren Eintrittskarte schließlich immer noch einen stolzen Preis trägt. Auch diese aber finden sich eingeschrieben in einen globalen Prozeß, der sich von einem traditionellen Stadtbild als Anker verabschiedet hat. Wie immer die anstehenden Probleme gelöst oder zumindest angegangen werden, das Muster der alteuropäischen Stadt hat dort ausgedient. Die Anordnung von Zentrum und Peripherie ist immer ein Ausdruck von Harmoniebedürfnis (gewesen), auch wenn -- und vielleicht gerade weil -- die Abwesenheit tatsächlicher Harmonie als schockierendes Gütesiegel der modernen Stadt galt. Die neuen Boomtowns der außereuropäischen Welt -- Koolhaas beschreibt sie als "Städte der verschärften Differenz" -- verlangen nach architektonischer und planerischer Praxis, die nicht mehr davon ausgeht, altbewährte Modelle ließen sich wie gehabt an anderer Stelle realisieren. Es mag gut sein, daß man dabei nicht (mehr) ohne Paradoxa auskommen wird. Jean Nouvel hat in diesem Sinne angemerkt: "Wenn die Virtualität der Realität gegenübersteht, ist es sich die Architektur mehr denn je schuldig, den Mut zu zeigen, das Image der Widersprüchlichkeit auf sich zu nehmen." Das Nichtbauen von Gebäuden, oder aber ein Bauen, das nicht mehr den überkommenen Vorstellungen von 'Baukunst' entspricht, mag durchaus zu diesen Widersprüchlichkeiten zählen.

Martin Klebes

Literaturhinweise

  • Koolhaas, Rem et al.: Mutations. Bordeaux; Barcelona: ACTAR 2001.
  • Kollhoff, Hans: Was ist eine Stadtgesellschaft? In: Mönninger, Michael (Hrsg.): Stadtgesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999.
  • Nouvel, Jean: Veränderungen. In: de Vallée, Sheila (Hrsg.): Architektur der Zukunft. Paris: Terrail 1995.
  • Oswalt, Philipp: Berlin -- Stadt ohne Form. München: Prestel 2000.
  • Wolf, Gary: Exploring the Unmaterial World. In: Wired 8.06 (Juni 2000), auch online.

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