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no. 3: unkultur
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Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph RilkeBuchkult und Kultbuch in den Weltkriegen |
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von Bettina Krüger |
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Deutsche Landser liebten Rilke: Während beider Weltkriege gehörte der Cornet in beinahe jedes Sturmgepäck -- eine gefragte, ja verehrte Heldenliteratur. Rilkes Jugenddichtung traf den Zeitgeist und geriet zur Projektionsfläche jener Ideologien sowohl des Kaiserreiches wie der Weimarer Republik, welche schließlich in die Weltkriege mündeten. |
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Rainer Maria Rilkes Jugenddichtung Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke ist heute ein nahezu vergessenes Werk dieses Autors, obwohl es eines der meistgelesenen Bücher zwischen 1912 und 1945 war.[Anm. 1] Dennoch lohnt es sich, diesen Text aus der literaturgeschichtlichen Mottenkiste herauszuholen, da sich in der Rezeptionsgeschichte dieses Rilkeschen Jugendwerkes Stimmung und Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft zur Zeit des Kaiserreiches und der Weimarer Republik am Vorabend zweier Weltkriege zeigen. Im Jahr 1912 erschien der Cornet als erster Band der bibliophilen Insel-Bücherei. Das schmale Buch begründete den Ruhm sowohl der neu geschaffenen Verlagsreihe als auch des bis dahin unbekannten Autors und wurde rasch eines der auflagenstärksten Bücher des wilhelminischen Deutschland. Aus heutiger Sicht erscheint es fast wie ein Treppenwitz der Literatur- und Verlagsgeschichte, daß der Insel Verlag im Kampf gegen die Trivialliteratur ausgerechnet mit Rilkes Cornet 'gute' Literatur zu Niedrigstpreisen unter das Volk bringen wollte (vgl. hierzu den Artikel zum Kolportageroman von Ina Jekeli). Wenn Rilke sich in späteren Jahren auch eher selbstkritisch über sein Erstlingswerk äußert, so hat er sich doch nie wirklich mit der Rolle, die der Cornet, der sich in fast jedem Sturmgepäck fand, auseinandergesetzt. In einem Brief vom 4.11.1925 schreibt er: |
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"Aus einem Moment tiefen und starken Jungseins [...] mag in jene Zeilen eine Bewegung eingeflossen sein, ein Etwas an unausgegebenem und unausgebbarem Glück, ein Vorrat, der sich Ihnen auch heute noch mitteilt: Sonst wäre ja nicht zu verstehen, wieso gerade diese so mangelhafte Leistung in Hunderttausenden von Exemplaren sich verbreiten konnte." (R. M. Rilke an Paule Lévy, 4.11.1925) |
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Auch in späteren Jahren hält Rilke noch an dem selbstgeschaffenen Mythos der einen schöpferischen Nacht fest, die ihm den Cornet beschert habe -- auch über die 1922 entstandenen Sonette an Orpheus schreibt Rilke übrigens, er habe sie "im Diktat" empfangen. Für eine ehrliche Auseinandersetzung mit seinem Jugendwerk wäre es allerdings notwendig, sich einzugestehen, daß die eine inspirierte Herbstnacht, der "Moment tiefen und starken Jungseins", eine Erfindung ist. Doch das hieße, gänzlich mit dem Bild des inspirierten Dichters zu brechen, das Rilke allzu gern von sich präsentierte, und sich die Frage zu stellen, was den bewußt mehrfach umgearbeiteten Cornet eigentlich noch von damaliger Propagandaliteratur unterschied. Denn hatte Rilke ihn auch nicht mit solchen Absichten geschrieben, mußte ihm dennoch klar gewesen (oder zumindest geworden) sein, wie sehr er sich zu solcher Verwendung anbot. Der Mythos der inspirierten Herbstnacht dient somit offensichtlich nicht nur der genialischen Selbsterhöhung, sondern auch dem Selbstschutz, um sich dem Vorwurf, zum Zwecke 'geistiger Mobilmachung' geschrieben zu haben, nicht stellen zu müssen. |
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Was also hat den Cornet zum Kultbuch werden lassen? Die (ohnehin spärliche) Handlung allein kann es nicht gewesen sein: Der junge Adelige Christoph Rilke wird auf seinem ersten Feldzug dank eines Empfehlungsschreibens zum Cornet ernannt, denkt während der langen Ritte an seine Jugendgespielin Magdalena, befreit eine offensichtlich zuvor vergewaltigte junge Frau, wird während der Rast in einem Schloß von der Gräfin verführt, die er, als das Schloß plötzlich von feindlichen Truppen angegriffen wird, in ihren brennenden Gemächern zurückläßt, um statt ihrer seine Fahne zu retten, besinnungslos den Feinden entgegenzustürmen und einen taktisch unnützen Tod in heroischer Pose zu sterben. |
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Eine 'wahre Geschichte' | ||||
Auffällig sind in Rilkes Beschreibungen der Entstehungsnacht des Cornet die Parallelen zur imaginierten Textsituation -- die zentrale Szene, die Verführung durch die Gräfin, spielt ebenfalls in einer Herbstnacht mit über den Mond ziehenden Wolken. Neben weiteren motivischen Parallelen existiert zudem eine biographische Klammer zwischen dem Autor und seiner Figur: Rilke hatte die angeblichen Familienpapiere, die er dem Cornet voranstellt, von seinem Onkel Jaroslav Rilke aus Prag erhalten, der, gleich Rilke, um den Nachweis einer adeligen Herkunft der Familie bemüht war. |
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Die Identifikation Rilkes mit seiner Figur überträgt sich mittels bestimmter, im Text angelegter Strukturen auch auf den Leser. Diese Strukturen lassen sich besonders gut mit Hilfe eines Vergleichs der verschiedenen Textfassungen ausmachen. In der ersten Fassung berichtet beispielsweise ein Ich-Erzähler von den aufgefundenen Dokumenten und gibt alles folgende als seine subjektive Lesart aus. In der dritten Fassung dagegen wird dieser Erzähler gänzlich unsichtbar; durch die Neutralität des Urkundentextes wird der Eindruck von absoluter Authentizität vermittelt, während innerhalb der Dichtung die auktoriale Erzählweise zugunsten der personalen aufgegeben wird, die den Leser wesentlich stärker zum Mitvollzug des eben als authentisch Ausgewiesenen anregt. Diese zwei zunächst einander entgegengesetzt erscheinenden Techniken greifen in Wirklichkeit ineinander, denn eine 'wahre' Geschichte weckt viel stärker die Empathie des Lesers als eine, die sich sogleich als Fiktion zu erkennen gibt. Und diese Empathie ist ebenso gefordert, wenn die Geschichte aus personaler Sicht erzählt wird. |
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Darüberhinaus führt Rilke in der Textfassung von 1906 eine Art Schnittechnik ein: Jede Szene erscheint auf einer eigenen Seite, so daß der bisher fortlaufende Text segmentiert wird. Dies entspricht dem Verfahren des Fortsetzungsromans, der stets dort abbricht, wo sich eine Spannung gebildet hat, so daß der Leser versucht, den Fortgang der Handlung mit den bereits vorhandenen Informationen 'fortzuspinnen'. Dadurch erhöht der Leser seinen Mitvollzug am Geschehen. An einigen Stellen wird der Leser sogar explizit in die Handlung miteinbezogen ("und da träumst du...", Szene XVI); ein solches Erzählverhalten charakterisiert der Literaturwissenschaftler Jürgen H. Petersen wie folgt: |
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"[...] das Präsens ermöglicht es dem Erzähler auch, das vom Du innerlich Erlebte zu beschreiben, weil es als Präsens der Vorstellung, beinahe möchte man sagen: der Suggestion verstanden werden kann. Und außerdem läßt die Erzählform alles Gesagte durch die Optik des Angesprochenen gehen."[Anm. 2] |
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Diese Suggestion setzt sich fort in Passagen, in denen nur noch Stichworte gegeben werden wie "Wachtfeuer" oder "Allein. Ebene. Abend"; diese Sprachverknappung soll das Existentielle der beschriebenen Situation verdeutlichen. Auf diese Weise wird zum einen das Beschriebene enthistorisiert -- Rilke leistet das, was im Normalfall der Leser selbst leistet, nämlich in einem beschriebenen Einzelschicksal ein sich ausdrückendes 'Allgemeines' herauszulesen. Er richtet seinen Text bereits so ein, daß keine Abstraktionsleistung mehr vonnöten ist und statt dessen der 'Mythos' vom tapferen Cornet unreflektiert rezipiert werden kann. Zudem greift Rilke auf einen Fundus kulturgeschichtlicher Topoi zurück: Da trägt ein französischer Marquis die Rose seiner Geliebten auf seiner Brust, von der er dem Cornet zum Abschied ein Blatt abbricht "als ob man eine Hostie bricht". Diese erotische Besetzung religiös konnotierter Dinge setzt sich fort im Bild der Fahne, die der Cornet trägt: Wird sie in der Liebesszene mit der Gräfin erst zum Phallussymbol ("Seine Fahne steht steil, gelehnt an das Fensterkreuz. Sie ist schwarz und schlank"), liegt sie später auf der Flucht aus dem Schloß in seinen Armen wie eine "weiße, bewußtlose Frau", zumal sie die Stelle der Gräfin einnimmt, die zu retten eigentlich nähergelegen hätte. |
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Die weiße Gräfin und das braune Mädchen | ||||
Die Untersuchung der Frauengestalten des Cornet ist besonders aufschlußreich: seltsam verquicken sich in ihnen Mütterlichkeit, Göttliches und Erotik -- eine merkwürdig 'sterile' Erotik allerdings: Durch den gesamten Text zieht sich das Bild der Mutter, einmal reitet die Truppe an einer Madonnen-Statue vorbei, womit in der Madonnenverehrung erstmals die erotische Komponente des Mutterbildes anklingt. Mütterlichkeit und Erotik vereinen sich dann in der Figur der Gräfin, die den Cornet verführt, wodurch ein reales, wenn auch moralisch anrüchiges Liebeserlebnis die Gedanken des Cornet an seine blonde Jugendgespielin Magdalena ablöst (der Erzähler führt eigens aus: "Da ist nichts, was gegen sie wäre"; daß der Szene etwas Inzestuöses anhaftet, ist wohl doch gar zu deutlich...). Diese Jugendgespielin Magdalena hat ihr Gegenbild in dem vergewaltigten, gefesselten (in der ersten Fassung "braunen") Mädchen, das eine animalische Sinnlichkeit verkörpert. Gemeinsam ist den Frauenfiguren ihre Unerreichbarkeit; sie sind keine Charaktere, sondern dienen einzig als Spiegel gängiger männlicher Phantasien -- die Mutter/Madonna und die reine Jugendgespielin/Schwesterfigur auf der einen Seite (der weißen), auf der anderen Seite (der "braunen", schmutzigen) das bedrohlich-sinnliche Mädchen. Welche Funktionen haben diese Phantasien aber? Sehen wir uns die Begegnung mit dem vergewaltigten Mädchen in der dritten Fassung an: |
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"der einzige Baum |
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Auffällig an dieser Beschreibung ist, daß der Körper des Mädchens eins wird mit dem Baum, an den es gefesselt ist. Es ist der Baum, der schreit, nicht ein Mensch. Und dieser Baum bäumt sich in der darauffolgenden Zeile -- das klingt fast wie die Heideggersche "Anwesung des Anwesenden" --, um erst dann zu einem Leib zu werden, der sich bäumt... In der Geschichte der Subjektivität zeigt sich, daß sich das männliche Subjekt als rational und selbstbestimmt erst im Gegensatz zu einer dämonischen Natur konstituiert. Diese dämonische Natur zu verkörpern, wird immer wieder der Frau auferlegt, wie auch im Beispiel Rilkes. Dazu bemerken Th. W. Adorno und M. Horkheimer[Anm. 3]: |
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"Der Mann als Herrscher versagt der Frau die Ehre, sie zu individuieren. Die einzelne ist gesellschaftlich Beispiel der Gattung, Vertreterin ihres Geschlechts und darum [...] steht sie für Natur, das Substratum nie endender Subsumption in der Idee, nie endender Unterwerfung in der Wirklichkeit." |
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Dadurch verkehren sich die Verhältnisse: Nicht das Mädchen war bedroht, ist verängstigt, sondern der sie befreiende Cornet. Sie, die gerade mit dem Leben davongekommen ist, macht dem Cornet mit "glühenden Blicke" und ihren Zähnen, mit denen sie nach ihm zu schnappen scheint, Angst. Einem vernünftigen Leser erscheint das einfach als unsinnig: Warum sollte sie ihren Befreier beißen, ihm Angst einjagen? Doch hier geht es offensichtlich nicht um psychologische Plausibilität, sondern darum, den weißen Madonnenbildern das bedrohliche Bild einer animalisch-sinnlichen Frau bzw. Hure gegenüberzustellen (Kratzen und Beißen ist in den zeitgenössischen Texten ein gängiger Topos zur Charakterisierung von 'Huren'). Es ist geradezu zynisch, daß hier eine Frau diese animalische Sinnlichkeit verkörpern muß, deren Opfer sie offensichtlich zuvor geworden ist! Und den Cornet graust vor dieser Frau -- sollte ihn nicht eher vor denen grausen, die sie an den Baum gefesselt haben? |
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Doch wie steht es um die anderen Frauen, die "reinen"? In Szene III erzählt jemand "von seiner Mutter": |
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"Alle lauschen. Sogar das Spucken hört auf. Denn es sind lauter Herren, die wissen, was sich gehört." |
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Schließlich sind sie alle "einander nah" (in Szene IV), denn was |
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"der Eine erzählt, das haben auch sie erfahren und gerade so. Als ob es nur eine Mutter gäbe..." |
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Merkwürdig, daß eine Mutter wie die andere sein soll -- offensichtlich geht es hier nur um ihre Funktion, ihre 'Mütterlichkeit', nicht ihre Individualität. Diese Vermutung bestätigt sich in Szene V, in der schließlich 'die Mutter der Mütter' in Gestalt einer Madonnenfigur auftaucht: "Eine einsame Säule, halbverfallen. Und wie sie lange vorüber sind, später, fällt ihm ein, daß das eine Madonna war", vor der der Marquis seinen Helm abgenommen hat. Wie hübsch Frauenverachtung sich hier als Marienkult verkleidet... man zieht vor der Statue den Helm, aber macht ohne Bedenken alle Mütter zu einer, reduziert viele Frauen zum 'Prinzip Frau'. |
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Die Gräfin schließlich, mit der der Cornet seine erste Nacht verbringt, bleibt namenlos, wie alle Frauenfiguren (außer der Jugendgespielin Magdalena) im Cornet; ja, in der Liebesnacht geben sie sich gar "hundert neue Namen", da sie sich ja gefunden haben, "um einander ein neues Geschlecht zu sein." Das funktioniert offensichtlich nicht, denn der Tod des Cornet wie auch der älteren, mütterlichen Gräfin will einem geradezu wie die 'Strafe' für diese verbotene, weil inzestuös gefärbte Nacht erscheinen, zumal in der Szene vor dem Angriff auf das Schloß, bei dem der Cornet sein Leben verliert, die Verbindung von Muttermotiv und Todesmotiv hergestellt wird: |
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"Wie hinter hundert Türen ist dieser große Schlaf, den zwei Menschen gemeinsam haben; so gemeinsam wie eine Mutter oder einen Tod." |
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In seiner Untersuchung der Rolle der Gräfin/Mutter/'weißen' Krankenschwester in verschiedenen Texten aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg kommt der Germanist Klaus Theweleit[Anm. 4] zu dem Schluß: |
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"Die Fiktion einer sexuell/nicht-sexuellen Mutter-Sohn-Beziehung wird erreicht durch Entsinnlichung, fast kann man sagen, Entlebendigung der Mutter und durch eine Verwundung des Sohnes. Die Anstößigkeit der inzestuösen Phantasie wird dadurch kaschiert. Sie ist schon bei den Engeln, er ist verletzt, beide sind geschlechtslos, beide brauchen Hilfe." |
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Diese 'Entlebendigung' trifft auch auf die Konstellation im Cornet zu, allerdings sind die beiden dort eben nicht verletzt und geschlechtslos, wofür die Gräfin in den Flammen, der Cornet von Türkensäbeln aufgespießt 'büßen' müssen. Auch hier verknüpfen sich wieder ein weibliches Motiv und der Tod: Als der Cornet sich auf die übermächtigen Angreifer stürzt, denkt er: |
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"[...] die sechzehn runden Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl, sind ein Fest. Eine lachende Wasserkunst." |
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Das Wassermotiv taucht in der Literatur immer wieder im Zusammenhang mit Frauen auf, und im Cornet fällt die mit Wasser (und Frau und Orgasmus) verbundene Vorstellung von Entgrenzung mit dem Tod des Protagonisten zusammen -- auch dies eine den Kult um den Cornet steuernde Struktur, da sie Entgrenzung und Erfüllung gleichsetzt... nur eben nicht in einer erfüllenden Liebesnacht (das reichte nicht für einen Helden), sondern in seinem Untergang. |
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Eine "vornehme Angelegenheit" | ||||
Rilke begnügt sich allerdings nicht mit den bereits aufgezeigten Strukturen im Text -- durch seine Einflußnahme auf die Gestaltung des Buches verlängert er darüberhinaus die Fiktion in die Wirklichkeit. Denn nicht nur im Text, v. a. in den Schloßszenen, wird Erlesenheit suggeriert, wenn von Brokat, seidenen Decken, weiten offenen Kragen und rotem Wein die Rede ist; diese Exklusivität soll sich, Rilkes Wunsch entsprechend, ebenfalls durch das Buch, das der Leser in den Händen hält, mitteilen: |
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"Aber eine solche Ausgabe hätte nur Sinn, scheint mir, wenn sie wirklich sehr schön und sehr tadellos wäre, eine kleine aber durchaus vornehme Angelegenheit. [...] Wir müßten einen guten Drucker und einen guten Buchbinder haben, jemand, der etwas kann, müßte mein Wappen und ein paar schöne Initialien zeichnen." (Rilke in einem Brief vom 25.11.1905 an seinen Verleger A. Juncker) |
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Durch seine äußere Gestaltung also wird der Text 'greifbar', d. h. sinnlich erfahrbar und erotisch besetzbar. Wie gut das alles funktioniert, wie perfekt der Text und seine Materialität aufeinander abgestimmt sind, zeigt die Rezeption des Cornet. |
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Der Erste Weltkrieg | ||||
Im Jahr 1912/13 schreibt Fritz Schwiefert eine Darstellung des Rilkeschen Werkes und bemerkt zum Cornet: |
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"...so erlebt auch der junge, achtzehnjährige Cornet, der [...] aus der Unbewußtheit und zagen Sehnsucht der Kindheit in die heiße Leidenschaft des erwachenden und bewußt werdenden Jünglingstums und in die herbe Reife des Mann- und Heldseins gerissen wird, die geistigen Kräfte, die das Dasein formen, in jäher Aufeinanderfolge in sich, den Zirkel seines Lebens früh und schnell, aber vollständig beschließend."[Anm. 5] |
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Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs war der Cornet bereits zum Kultbuch avanciert, und trotz der vermutlich kärglicheren Feldausgabe wirkte der Zauber weiterhin. Wie sollte es auch anders sein, ermöglichte die Identifikation der Leser mit dem Protagonisten doch die Überwindung der eigenen Todesangst, verdeckte die Ästhetisierung des Krieges seine Sinnlosigkeit.-- Dies hat schon immer gut funktioniert: Drachen sollte man(n) töten oder Türken vertreiben, um nicht etwa die Macht des Lehnsherrn oder anderer Herrscher in Frage zu stellen, und daheim wartete eine Frau als Lohn. Theweleit stellt in Männerphantasien ausführlich dar, wie solche 'Mythen' vom Ausziehen in den Krieg und der glücklichen Wiederkehr bereits zu Odysseus' Zeit der Herrschaftssicherung dienten. Interessant daran ist, daß die Beherrschenden diese Mittel gar nicht bewußt und planvoll einsetzen mußten; vielmehr verinnerlichten die Beherrschten das Ideal der herrschenden Schicht, die dieses selbst gar nicht mehr praktizierte, und setzten sich so durch vermeintliche moralische Überlegenheit von ihr ab. Besonders augenfällig wird diese Konstellation im bürgerlichen Trauerspiel: Anstatt eine Revolution gegen die despotischen Fürsten anzuzetteln, übt das Bürgertum sich in Tugendhaftigkeit -- zum Beispiel in Lessings Emilia Galotti. Auch der ausziehende Eroberer und Soldat entledigt sich nicht etwa der Herrschaft seines Souveräns, sondern kehrt immer wieder zurück, da zu Hause ja sein Lohn, eine Frau, auf ihn wartet. Im Todesfall blieb als 'Lohn' für den Soldaten zumindest die Gewißheit, daß die eine oder andere Gräfin oder eine "Mutter um ihren Buben" weinte. Damit dies in der skizzierten Weise funktionierte, mußten die Frauen zum Warten und Weinen gebracht, das heißt machtlos gemacht werden, zumal die Liebe zu ihnen unvereinbar wurde mit der zum Vaterland, die im Zweifelsfall stets die wichtigere, edlere war (deshalb rettet der Cornet 'ideologisch korrekt' die Fahne, nicht die Gräfin). Wie wirkungsvoll diese Unterdrückung der Frauen als Mittel zur Machtsicherung war, wie gut diese Mythen funktionierten, zeigen die Erinnerungen des ehemaligen Soldaten Alfred Hein an den Einsatz im Ersten Weltkrieg: |
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"...ich wurde Rilkes Jünger voll Inbrunst und Andacht; seine Verse wurden mir Evangelium -- in ihnen ruhte meine Seele aus. [...] Auch mich fragte die Gräfin eines Tages: 'Frierst Du? Hast Du Heimweh?' [...] 'Und dann waren wir wieder tief im Feind, aber ganz allein.' [...] 'Der Schrecken hatte um uns einen runden Raum gemacht und wir hielten mitten drin...' So zu lesen im 'Cornet', so zu erleben ward es uns (fast beseligend) beschieden. Wir nahmen den Krieg noch wie die Erfüllung eines Rilkeschen Traumbaus --" (Alfred Hein: Cornet und Feldsoldat (25.12.1936); zit. n. W. Simon: Die Weise..., S. 287 f. ) |
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Selbst nach den Materialschlachten in Frankreich und Millionen von Toten schreibt 1921 ein Kritiker bereits im Ton der Blut- und Bodenideologie über Rilkes Jugendwerk: |
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"Im 'Cornet' aber leistete Rilke das scheinbar Unmögliche: blutfrisches und erdenschweres Geschehen von größerer zeitlicher Erstreckung bannte er in ein Werk zusammen, das man doch wohl ein Epos nennen muß und das doch dem Wesen impressionistischer Kunst treu blieb", |
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und über den Protagonisten selbst: |
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"Wie stolz und pflichtbewußt flüchtet sich sein Heldentum und sein Frauendienst in seinem Briefe, dem letzten, der sie erreichen soll, zu seiner Mutter. [...] Verklungen die Weise. Noch einmal tönt ihre Grundmelodie wehmütig an, das frauliche Motiv in seiner reinsten Gestalt: in der Heimat sitzt eine Mutter und weint um ihren Buben." (Berthold Schulze: Rilkes "Cornet" (1921); zit. n. W. Simon: Die Weise..., S. 203 u. 206/7.) |
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-- Von welchem Frauendienst ist hier eigentlich die Rede? Die Gräfin hat der Cornet in der letzten Fassung doch verbrennen lassen, seine Fahne war ihm wichtiger; sie überlebt in den beiden ersten Fassungen nur, um in fernen Landen einen Sohn bekommen zu können. Ohne diese Nachkommenschaft hätte es ja den Cornet nicht gegeben, deshalb durfte sie zunächst dem Feuer entkommen... Sexualität als Selbstzweck, als Ort einer möglichen Erfüllung ist im Cornet offensichtlich nicht denkbar, sondern nur als ein notwendiges Übel vertretbar, damit die Gräfin den Vorfahren des Dichters gebären kann. Auch dies erinnert an die nationalsozialistische Ideologie, in der Frauen zu Gebärmaschinen degradiert wurden (am deutlichsten spiegelt sich das in der Einrichtung der 'Lebensborn'-Heime wider). So verblendet der zuvor zitierte Kritiker von 1921 auch sein mag, er hat im Cornet zu Recht Affinitäten zu seiner Ideologie gewittert. |
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Der Zweite Weltkrieg | ||||
Auch direkt vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bietet sich der Cornet als deutsche Heldenliteratur an: Die höchste Erfüllung des Mannes ist ein früher, 'heldenhaften' Tod, wie es Irene Betz 1936 in einer Schrift über Den Tod in der deutschen Dichtung des Impressionismus formuliert: |
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"Der Cornet Christoph Rilke stirbt den Tod, der allein zu seinem Leben gehört, der es vollendet und krönt. Er ist rauschende Erfüllung und selige Entäußerung. Der Zauber, der von dieser Weise ausgeht, ist gerade in dem jungen Sterben begründet, das das gedrängte Leben doppelt schön und doppelt sinnvoll erscheinen läßt." (zit. n. W. Simon: Die Weise..., S. 286.) |
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So ziehen sich die Lektüre des Kultbuches und der damit verbundene Buchkult bis in den Zweiten Weltkrieg; der Soldat Max Schönauer berichtet von seiner Zeit in Frankreich und einer Begegnung mit Rilkes Dichtung geradezu verzückt -- auch hier hat der Cornet die beabsichtigte Wirkung --: |
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"Donnerwetter! Das war doch...! Eine jähe Freude ließ mein Herz bis zum Halse schlagen, als hätte ich einen geliebten Menschen, nein, eine Geliebte nach langer Zeit plötzlich und unerwartet wiedergefunden. Ja, das war sie, die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. [...] Der 'Cornet' auf Französisch. Immer wieder trat er in mein Leben. Das zog sich nun vom Weltkrieg herüber durch die Nachkriegszeit bis in diesen Krieg. [...] Ich lächelte über mich selbst, als ich mich dabei ertappte, wie ich mit diesen großen französischen Buchstaben geradezu zärtliche Zwiesprache hielt." (ibid., S. 303.) |
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In diesem Zitat zeigt sich die Erotisierung des Textes ganz deutlich -- Rilkes Rechnung ist aufgegangen, der Text wird zur Person, mehr noch, zur Geliebten! Bezeichnenderweise liegt in dem aufgefundenen Exemplar auch ein getrocknetes Rosenblatt und die Worte einer Liebenden an ihren an die Front abberufenen Geliebten; was im Buch beschrieben wird, wird auch außerhalb des Buches praktiziert, die Identifikation ist perfekt. Und statt mit einer realen Geliebten hält Schönauer nun zärtliche Zwiesprache mit den französischen Buchstaben und spürt nicht den Mangel, den er an der Front erleiden muß. Und selbst die französischen Buchstaben lassen ihn nicht merken, wie absurd es ist, am nächsten Tag wieder auf Franzosen zu schießen... |
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Perfekt greifen Rilkes Text und zunächst die bürgerlich-wilhelminische, dann nationalsozialistische Ideologie ineinander. Dadurch, daß der Cornet nur als Folie für die Klischeevorstellungen seiner Leserschaft fungiert, werden bisherige Seh- und Leseweisen nicht etwa aufgebrochen, wie Literatur dies im besten Falle bewirkt, sondern altbekannte kulturelle Muster einmal mehr reproduziert. Wie alle Trivialliteratur macht der Text die Bewegung der bürgerlichen Ideologie, ihrer Stereotypen, ihrer Mythen mit, die, wie Roland Barthes es formuliert, den herrschenden Gesellschaftszustand nicht als etwas historisch Gewachsenes, sondern als einen Naturzustand hinstellen[Anm. 6]. Diese Enthistorisierung oder "évaporation miraculeuse de l'histoire" ist, wie Barthes feststellt, eine andere |
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"Form eines den meisten bürgerlichen Mythen gemeinsamen Konzepts: der Verantwortungslosigkeit des Menschen."[Anm. 7] |
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Man kann Rilke nicht vorwerfen, bewußt Propagandaliteratur geschrieben zu haben, und gute Dichter fallen bekanntlich nicht vom Himmel -- man könnte ihm diese 'Jugendsünde' verzeihen, wenn er sich denn je mit der Rolle, die dieses Buch gespielt hat, auseinandergesetzt hätte. Rilke traf einen bestimmten Zeitgeist; er selbst wollte sich als Dichter bewähren zu einem Zeitpunkt, da er selbst noch an seiner Begabung zweifelte. Um seine eigenen Komplexe zu überwinden, identifizierte er sich mit seinem Helden, der im Buch als Krieger so erhöht wird, wie es sich Rilke nach Erscheinen seiner Dichtung erhoffte. Durch die zuvor analysierten Strukturen übertrug sich diese Identifikation auch auf den Leser, und dies wiederum zu einem Zeitpunkt, da die vermeintliche Erniedrigung überall spürbar war. Man lechzte in Deutschland förmlich nach Größenphantasien, und die staatlich propagierten von wiedergewonnener nationaler Stärke verknüpften sich mit solchen eines individuellen Heldentums, wie sie Werke wie Rilkes Cornet vermittelten. Gerade die Tatsache, daß Rilke eine solche Aufnahme seiner Dichtung nicht wirklich erwartet hat und daß ihm auch später ein ernsthaftes Nachdenken über ihre Wirkung nicht notwendig erschien, spiegelt eben jene Verantwortungslosigkeit, von der Roland Barthes spricht, und enthüllt damit das Zerrbild der bürgerlichen Kultur, in das sie unter bestimmten historischen Bedingungen nur allzu leicht umschlagen kann: die Barbarei. |
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autoreninfo
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Bettina Krüger, geboren 1970 in Lübeck. Studium der Germanistik und Romanistik in Tübingen und Aix-en-Provence, von 1998 bis 2007 in verschiedenen Unternehmensberatungen tätig. Seit 2007 Referentin Mitarbeiter- und Führungskräftekommunikation bei einer Versicherungsgesellschaft. Lebt seit 2001 in München.
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