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no. 19: worte, worte, worte -> editorial
 

editorial

So viele Worte überall. Und immer wieder neue. Was mußten wir nicht alles lernen in den letzten Jahren ... was eine Ich-AG ist, wie man sich als Metrosexueller zu betragen hat, wozu ein iPod gut ist und dergleichen wichtiges mehr. Neue Modeworte, ja ganze Modesprachen schießen wie Unkraut aus dem Boden. Anglizismen allüberall, und was man groß und klein schreiben muß, weiß schon lange keiner mehr (wie bereits 1991 in L.A. Story vorhergesagt: "Sandy. Großes S, kleines a, kleines n, großes D, kleines e, großes E und 'n Sternchen!").

Die alljährliche Suche nach dem Unwort des Jahres erfreut sich großer Beliebtheit, und inzwischen gibt es auch schon das Gegenteil: Parallel zur Herstellung dieser Ausgabe lief der Wettbewerb "Das schönste deutsche Wort", ausgeschrieben vom deutschen Sprachrat -- die Einsendungen reichen von "und" über "Göttergatte" bis "Rinderkennzeichnungs- und Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz". Die breit qualifizierte Jury (Literaturkritiker, Radiomacher, Dudenchef, Fußballtrainer usf.) hat die herausfordernde Aufgabe, von allen eingesandten Worten das "schönste" zu finden. Das raunt. Das schönste? Klanglich? Optisch? Etymologisch? Künstlerisch? Semantisch? Äh, was? Das kleine Problem haben die Ausschreiber auch erspäht. Und erklären sogleich eloquent, daß es also eigentlich dann doch nicht um das Wort selbst geht, sondern um die mitgelieferte Begründung, aus der hervorgehen soll, warum dieses nun für einen selbst das Allerschönste ist. Soso. Also doch wieder Worte statt Wort.

Einzeln macht auch das schönste (oder häßlichste) Wort keinen Sinn. Es ist nicht eine dem Wort "Ich-AG" eigentümliche Qualität, die 2002 die Leute scharenweise zum Telefonhörer greifen ließ, welche es zum "Unwort des Jahres" krönten -- genau wie der schöne deutsche Jungenname "Adolf" selbst nichts dafür kann, daß er vor ungefähr 60 Jahren schlagartig aus der Mode geriet.

An Worten kristallisieren sich Diskurse, komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge ebenso wie modische Entwicklungen. Worte formen Bedeutungssysteme, Sinnzusammenhänge und ganze Subkultursprachen, in denen man sich, unabhängig vom Inhalt, auf heideggerianisch, sozialpädagogisch, unternehmensberaterisch, früher auch kommunistisch und feministisch, heimisch fühlen kann, kuschelig eingebettet in einen Zusammenhang aus Worten, die allesamt durch ihre Vertrautheit Wahrheit und Richtigkeit suggerieren. Worte können auf diese Weise instrumentalisiert, mißbraucht und kontaminiert werden. Viktor Klemperer schrieb kurz nach dem Ende des dritten Reiches in LTI: "Wenn den rechtgläubigen Juden ein Eßgerät kultisch unrein geworden ist, dann reinigen sie es, indem sie es in der Erde vergraben. Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab legen."

Um Worte dreht sich alles in dieser 19. Ausgabe von parapluie. Sie interessieren uns alle: Die schönen, die häßlichen und auch die manipulativen; die, die uns zum Lachen bringen und die uns grausen lassen. Es lohnt sich, die Worte umzudrehen wie Steine auf dem Feld und zu schauen, was sich darunter verbirgt. Sie nach ihrer Herkunft, ihren Zusammenhängen und Verwendungszwecken zu befragen. Zuzuschauen, was sie mit Sprache machen und umgekehrt. Darum machen wir gerne viele Worte.

Ina Jekeli

 

autoreninfo 
Dr. Ina Jekeli, Jahrgang 1972, studierte Soziologie, Geschichte und Politikwissenschaft in Mainz, Tübingen und Paris. Sie promovierte in Tübingen mit der Dissertation: Ambivalenz und Ambivalenztoleranz. Soziologie an der Schnittstelle von Psyche und Sozialität. Osnabrück 2002. Parallel war sie an der Uni Tübingen in einem Forschungsprojekt zur Heimerziehung taetig. Seit 2002 lebt sie in Amsterdam und arbeitet im Bereich der Familiendiagnostik und Supervision bei kommunikativen und familienstrukturellen Problemen. Ina Jekeli ist seit 1997 Mitglied der parapluie-Redaktion.

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