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no. 19: worte, worte, worte -> etymologie
 

Das echte Wort vermutlich ging verloren

Himmel und Erde im Visier der Sprachwissenschaft

von Katja Mellmann

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* diskussion

Die Dinge sind nicht immer, was sie scheinen. Im allgemeinen halten wir die Welt für das, was unsere Sprache aus ihr gemacht hat. Aber war es auch wirklich immer unsere Sprache? Wie sehr unsere heutige Kultur auf falscher Wortgläubigkeit aufruht, zeigten während der letzten Jahrzehnte eine Reihe sprachgeschichtlicher Untersuchungen sowohl zu 'heiligen Texten' als auch zu höchst profanen Wortrelikten aus vorgeschichtlicher Zeit. Unsere religiöse wie unsere weltliche Wirklichkeit bestehen zu einem ungeahnt großen Teil aus Fehllektüren, Übersetzungs- und Überlieferungsfehlern. Das "echte" Wort ist häufig älter als die Sprache, Schrift oder Kultur, die sich heute ihren jeweiligen Reim darauf machen müssen. Die Etymologie erweist sich somit als eine Schlüsselwissenschaft zur Selbstreflexion der modernen Kultur -- und nicht zuletzt als ein starkes Argument für Humanität und Toleranz.

 
"In Wonnegärten,
Ein Trupp von den Urersten,
Und wenige von den Letzten.
Auf gestickten Polsterkissen,
Gelehnt darauf, sich gegenübersitzend,
Umkreist von Jünglingen, ewigen,
Mit Bechern, Näpfen, Schalen des Klarflüssigen,
Das nicht berauscht und nicht verdüstert;
Und Früchten, wonach sie gelüsten,
Und Fleisch von Vögeln, was sie wünschen.
Und Mädchen, groß geaugt, gleich Perlen in der Muschel,
Belohnung fürs getane Gute:
Sie hören dort kein Torenwort noch Sünde,
Nur sagen: Friede, Friede! "
(56. Sure des Koran, in der Übersetzung durch Friedrich Rückert[Anm. 1])

Ob die seligen Muslime im Jenseits zu frischem Quellwasser, erlesenen Früchten und Geflügelfleisch wirklich auch "großgeaugte Mädchen" (in vielen Übersetzungen auch: "großäugige Huris") gereicht bekommen, das hat jüngst ein deutscher Sprachwissenschaftler nachdrücklich in Frage gestellt. In seinem Buch Die syro-aramäische Lesart des Koran führt der Semitist Christoph Luxenberg (Pseud.) das Wort "Huris" nicht auf einen arabischen, sondern auf einen aramäischen Wortstamm zurück und übersetzt es als "weiße Weintrauben". Diese Deutung paßt nicht nur deutlich besser zum Kontext der betreffenden Textstellen im Koran (Suren 44, 52 und 56), die alle eine Art himmlisches Frühstück beschreiben, sie paßt auch in den gesamten Überlieferungszusammenhang: Weintrauben als paradiesische Speise lassen sich nämlich auch schon in der frühchristlich-syrischen Hymnendichtung finden[Anm. 2] und sind offenbar Teil einer gemeinsamen Urmythologie der sowohl christlichen als auch islamischen Tradition.

Luxenberg kann sich bei seiner Deutung auf die frühe Sprachgeschichte des Orients stützen. Er geht davon aus, daß das Hocharabische -- die Sprache, aus welcher man den Koran bislang ausschließlich zu deuten versuchte -- zur Zeit des Propheten noch gar nicht existierte. Es habe lediglich eine Anzahl verschiedener arabischer Volksdialekte gegeben, Schriftsprache und lingua franca Vorderasiens aber sei das Aramäische gewesen. Mündlich überliefert wurde der Koran laut Luxenberg in einer aramäisch-arabischen Mischsprache. Eine Interpretation des Koran allein aus dem Arabischen stellt deshalb ein gewisses Problem dar. Eine weitere Fehlerquelle bestand darin, daß die arabische Schrift zum Zeitpunkt der Verschriftlichung des Koran nur Konsonanten notierte. Die diakritischen Zeichen, die die Vokale festlegen, wurden erst später entwickelt; zu einem Zeitpunkt, da die aramäisch-arabische Mischsprache des Koran schon nicht mehr im Bewußtsein der Zeitgenossen war. Als man den Korantext in seiner hocharabischen Version fixierte, mußte man das Konsonantenskelett also erst einmal um Vokale ergänzen und legte auf diese Weise Bedeutungen fest, die nicht immer die ursprünglichen gewesen sein müssen. Die Folge: eine Vielzahl 'dunkler Stellen' im Koran, die von der islamischen Theologie bis heute nicht schlüssig erhellt werden konnten.

Solche 'dunklen Stellen' bilden den Ausgangspunkt für Luxenbergs syro-aramäische Deutung des Koran. Er schreibt das heilige Buch nicht komplett um, aber er bietet alternative Etymologien an dort, wo Herleitungen aus dem Arabischen versagen oder zu einem semantisch unbefriedigenden Ergebnis führen. Das vielfach zitierte Beispiel der Huris ist dabei nur das spektakulärste, das für Schlagzeilen am besten geeignete. Es sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß Luxenberg streng philologisch vorgeht. Es geht ihm nicht um den Skandal oder die Diskussion religiöser Wahrheiten, sondern um eine linguistisch adäquate Analyse alter Textzeugnisse. Und da es sich nicht um irgendwelche, sondern für die heutige Zivilisation höchst wichtige Texte handelt, sind seine Befunde nicht nur von sprachwissenschaftlichem Interesse. Auch aus kultur- und religionsgeschichtlicher Perspektive ist die Grundtendenz von Luxenbergs Ergebnissen, daß nicht nur die "Huris", sondern auch viele andere von ihm alternativ gedeutete Stellen auf gemeinsame Quellen der islamischen und der christlichen Mythologie hinweisen, von einiger Brisanz. Die hohe Überzeugungskraft seiner syro-aramäischen Interpretation des Koran auch für ein nicht-fachliches Publikum liegt eben darin, daß sie nur neu ins Licht stellt, was sowieso bekannt ist: die ursprüngliche Verwandtschaft von Christentum und Islam.

Auf vergleichbare Weise hat vor etwa zwanzig Jahren der jüdische Theologe und Religionswissenschaftler Pinchas Lapide einige unverständliche Redewendungen im Neuen Testament erhellt und die enge Verflechtung von christlicher und jüdischer Lehre wieder stärker ins Bewußtsein gerückt. Daß 'unser Herr ein Jude war', ist längst zum Gemeinplatz verkommen. Lapide aber macht ernst mit diesem Faktum. Die christliche Tradition habe mit ihrer Verwörtlichung der Bibel, ihrem Wunderglauben und ihrem Hang zum Herauslösen einzelner Bibelworte aus ihrem Kontext zu einer Reihe von Sinnverzerrungen und -entstellungen geführt. Lapide will die Heilige Schrift wieder in ihr Gesprochensein zurückführen, d.h. in ihren ursprünglichen sprachlichen, situativen und kulturellen Kontext: ins Hebräische, ins von der Römern besetzte Galiläa und in die jüdische Kultur und Denkweise.

So übersetzt Lapide den griechischen Text versuchsweise zurück ins Hebräische und kommt dabei immer wieder zu alternativen Übersetzungen. Zum Beispiel war es immer Anlaß zur Verwunderung, warum Jesus in Lk 16,8 einen Betrüger "lobte", weil er "klug" gehandelt habe. Lapide meint, das hebräische Wort "barech" könnte hier zugrunde gelegen haben, das im allgemeinen zwar "loben, segnen" heißt, aber auch als Euphemismus für "schelten, fluchen, verdammen" verwendet wurde. Und das hebräische Wort "arúm" für "klug, verständig" kann ebensowohl "listig, hinterlistig" heißen. Wahrscheinlicher ist also, daß Jesus den Betrüger "schalt", weil er "hinterlistig" gehandelt habe. Berühmt geworden ist Lapides Berichtigung von Mt 19,24: "Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher in das Himmelreich kommt." Wahrscheinlich hat Jesus sich hier ganz einfach einer bekannten aramäischen Redewendung bedient, die da lautet: Leichter geht ein Schiffstau durch die Öse, als ein Reicher in das Himmelreich kommt. Lapide vermutet einen Schreibfehler, der aus "gamta" ("Tau") "gamal" ("Kamel") werden ließ.

Programmatisch wandte er sich außerdem gegen die übliche Auslegung von Mt 9,17:

"Man füllt auch nicht jungen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißen die Schläuche, und der Wein wird verschüttet, und die Schläuche kommen um. Sondern man füllt jungen Wein in neue Schläuche [...]."

Die christliche Exegese setzte den jungen Wein mit Jesu Verkündigung, die alten Schläuche mit der jüdischen Tradition gleich und übersetzte folglich, das absolute Novum der christlichen Lehre könne nicht in die alten Formen des Judentums gepreßt werden, ohne Schaden zu nehmen. Eine Deutung, die um eine scharfe Abgrenzung des Christentums vom Judentum bemüht ist. Lapide hingegen führt eine Reihe von Zitaten aus der alttestamentlichen bzw. talmudischen Sprüchetradition und aus apokryphen Schriften an, die verdeutlichen, daß die parabolische Rede von jungem und altem Wein immer eine klare Wertung impliziert: daß nämlich der alte Wein das Gute, der junge das Schlechte ist, und interpretiert den Ausspruch Jesu entsprechend so, daß Jesus lediglich vor einer Legitimation neuer Sitten durch alte Formen habe warnen und die überbrachten Formen habe schützen wollen. Mit dem jungen Wein spiele Jesus außerdem nicht auf seine eigene Lehre an, wie der Kontext der Bibelstelle zeigt, sondern auf übertrieben rigorose neue Fastengebräuche, die er selbst ablehnte. Jesus also als Fürsprecher der Reinerhaltung jüdischer Lehre? Das ist freilich eine Deutung, die in der christlichen Theologie etwas stören könnte. Die gängige christliche Deutung ist aus der Retrospektive motiviert und konstruiert nachträglich Diskontinuitäten, wo geschichtlich plausibler zunächst Kontinuitätsbewußtsein anzunehmen wäre.

Nicht nur innerhalb der islamischen Kultur also zeigt sich religiöser Dogmatismus in Form von Ignoranz gegenüber der eigenen Geschichtlichkeit. Vielmehr scheint es eine geradezu zwingende Folge von Gründungsereignissen (religiöser oder auch säkular-patriotischer Art), daß im Zuge der Abgrenzung von einem Vorher oder einem Anderen die Geschichte und Zusammensetzung des Eigenen retrospektiv verengt, teleologisch umgedeutet und partiell mystisch 'verdunkelt' wird. Der Zauber des Neuen, des ganz Anderen und des letztlich 'Dunklen' wiegt oft mehr als das Bedürfnis, sich selbst verständlich zu sein. Credo, quia absurdum -- ich glaube, (gerade) weil es absurd ist -- lautet die zugehörige Immunisierungsformel im Christentum. Vergleichbar argumentieren einige kritische Reaktionen auf Luxenbergs Buch von muslimischer Seite: Man wirft ihm vor, er habe die Tatsache, daß es sich beim Koran um geoffenbartes göttliches Wort handelt, "sträflicherweise total außer Acht gelassen"; religiöse Wahrheit sei "durch menschlich-rationales Denken" nun einmal "nicht erklärbar" (ein Leserbrief).

Gerade weil aber eine 'Verdunklung' der eigenen Tradition offenkundig zu den üblichen Verfahrensweisen kollektiver Identitätsstiftung gehört, verdient die sprachgeschichtliche Methode Luxenbergs besondere Aufmerksamkeit. Sie ist ein Schlüssel zu sehr viel mehr Fehlüberlieferungen, die unseren Alltag begleiten und prägen, von Banalitäten angefangen bis hin zu so vermintem Gelände wie dem religiöser Überlieferung. Leider ist die Sprachwissenschaft in der heutigen Zeit nicht wenig in Gefahr, das Etikett "Orchideenfach" aufgeprägt zu bekommen, zumal wenn es sich um solche Zweige wie den der Assyriologie, der Semitistik oder der Byzantinistik handelt. Dabei bietet gerade die Sprachwissenschaft eine Möglichkeit zur unerläßlichen Selbstreflexion der modernen Kultur. In einer Zeit, in der Kultur in so hohem Maße auf Sprache und Texte gegründet ist, kann der professionelle Umgang mit dem Wort die Selbstverständigung einer Kultur entscheidend befördern; kann ihr historisches Gewachsensein, ihre Zufälligkeit, ihr Fundament aus Relikten unterschiedlichster Herkunft transparent machen.

Doch muß man Sprachgeschichte dazu schon mit so offenem Blick betreiben, wie Luxenberg es tut. Der Clou seiner Methode besteht kurzgesagt darin, daß er bei etymologischen Erklärungen ältere Sprachschichten und historische Konkurrenzsprachen mitberücksichtigt. -- Das sei doch selbstverständlich? Von wegen! Zwar ist Sprachwissenschaft immer auch Sprachgeschichte, und auch die Sprachkontaktforschung ist gut etabliert. Wo 'Geschichte' aber an die Grenze zur 'Vorgeschichte' stößt, d.h. in Vergangenheiten vordringt, aus der uns keine Schriftzeugnisse überliefert sind, da geraten diese Prinzipien auch schnell einmal in Vergessenheit. Ein anderer Sprachwissenschaftler, der durch ungewöhnliche Konsequenz in dieser Hinsicht zu überraschenden neuen Einsichten gekommen ist, mag ein Licht darauf werfen, wie wenig selbstverständlich das Denken über den eigenen (sprachlichen) Horizont hinaus selbst im wissenschaftlichen Milieu und selbst in viel weniger prekären Angelegenheiten ist.

Europäische Ortsnamen -- Namen für Städte, Flüsse, Täler, Wälder, Gemarkungen und andere topographische Objekte -- versuchte man lange Zeit allein aus dem Indogermanischen heraus zu deuten. Das führte immer wieder zu recht poetischen Namenserklärungen. So sollen manche Städte nach bestimmten Pflanzen benannt sein, die in dieser Gegend (vielleicht) häufiger vorkommen als anderswo, Täler nach Adelsgeschlechtern oder individuellen Helden, die nie urkundeten, oder Flüsse nach Eigenschaften, die sie gar nicht besitzen. Der Linguist Theo Vennemann hat sich in mehreren seit 1984 erschienenen Beiträgen solchen unplausiblen Ortsnamen von einer anderen Warte aus genähert: Er führte den Ortsnamenkundler Hans Bahlow an, nach dessen Ansicht die befriedigendste Erklärung vorgeschichtlicher Ortsnamen dann erreicht ist, wenn ein Fluß einfach 'Fluß' heißt, ein Tal 'Tal', ein Berg 'Berg' und ein See 'See'; oder höchstens auch einmal ein Fluß nach seinem Tal oder umgekehrt. Mehr Poesie in Toponymen aus vorrömischer Zeit hält Vennemann für unwahrscheinlich. Sein Argument ist ganz einfach: Ortsbenennungen funktionieren heute immer noch so. Zum Beispiel nannten die amerikanischen Besatzer nach 1945 ihr Naherholungsgebiet in Süddeutschland "Lake Chiemsee". Vennemann sieht in dieser Wortbildung das Grundprinzip aller Ortsbenennungen paradigmatisch enthalten: Die Endung "-see" war den Amerikanern unverständliches Sprachmaterial, "Chiemsee" also nur ein Name, kein Begriff. Folglich nannten sie den See erläuternd "Lake Chiemsee". Was spricht gegen die (wenigstens theoretische) Möglichkeit, daß auch "Chiem-" in irgendeinem Sprachzustand einmal nichts anderes als "See"[Anm. 3] bedeutete und von späteren Sprechern zu "Chiemsee" erweitert wurde?

Ein historisches Beispiel für diese Art der Ortsbenennung ist der englische Siedlungsname "Arundel" (eine Stadt in West Sussex). Hinter der Endung "-del" verbirgt sich derselbe indogermanische Wortstamm wie hinter dem deutschen Wort "Tal". Übrig bleibt "Arun-", und eben hier versagt das Indogermanische als Deutungskontext, und die poetische Phantasie des Sprachkundlers schwingt sich auf. So wurden Ortsnamen wie Arundel, Arendal, Arnbach, Arnsberg, Arnstadt usw. in der älteren Toponomastik von der indogermanischen Wurzel "aro" für "Adler" oder von einem unbekannten Gründer namens "Arno" abgeleitet. Vennemann hingegen erklärt den Wortstamm aus der baskischen Wurzel "aran-", die schlichtweg 'Tal' bedeutet. Das Toponym "Arundel" zeigt ihm zufolge dieselbe Redundanz wie das gaskonische "Val d'Aran" in den Pyrenäen oder das "Ahrntal" in den Alpen -- nach dem Prinzip "Lake Chiemsee" eben.

Auffällig ist, daß die von Vennemann aufgegriffenen Ortsnamensbestandteile sich alle mehrfach in Europa finden, also in ganz unterschiedlichen Sprachgemeinschaften: Zum Beispiel fließt in Deutschland eine "Isar", in Tschechien eine "Iser", in Belgien eine "Yser", in Italien ein "Isarco" (die Eisack) und in Frankreich eine "Isère". Ganz zu schweigen von den vielen "Eisbächen" und "Eisenbächen" im deutschen Sprachraum. Diese Ähnlichkeiten waren zwar bereits von dem Ortsnamenforscher Hans Krahe hervorgehoben, bislang jedoch nur aus dem Indogermanischen heraus erklärt worden. Innerhalb dieses Sprachkontextes läßt sich der Wurzel "is-" bzw. "eis-" zum Beispiel die Bedeutung "sich heftig bewegen" zuordnen -- eine etwas umständliche Bezeichnung für einen Fluß, mag die Eigenschaft auch in manchen (aber eben nur in manchen) der Fälle zutreffend sein. Aus dem Baskischen gedeutet heißt "is-" dagegen nichts weiter als "Wasser". Vennemanns Etymologien sind semantisch mehr als überzeugend. Die Frage ist nur: Warum ausgerechnet das Baskische?

Die Besonderheit des Baskischen besteht darin, daß es mit keiner der indogermanischen Sprachen auf dem europäischen Kontinent verwandt ist und seine Herkunft geschichtlich bislang nicht geklärt ist. Vennemann nimmt an, daß das Baskische bzw. seine Urform (das Paläobaskische oder Vaskonische, wie Vennemann diese rekonstruierte frühe Sprachstufe benennt) die Sprache des europäischen Kontinents vor der Einwanderung der Indogermanen im sechsten Jahrtausend vor Christus war. Spuren dieser ersten europäischen Sprachschicht stellten zum Beispiel die von ihm aus dem Vaskonischen gedeuteten Ortsbezeichnungen dar. Mit der Ausdifferenzierung der Einzelsprachen jedoch hätten sich diese Spuren zunehmend verwischt. Denn eine neue Sprachschicht baut an unverständliches vorgefundenes Sprachmaterial nicht nur redundante Erweiterungen vom Typ "Lake Chiemsee" an, sondern deutet und verfälscht es überdies auch durch sogenannte Volksetymologien.

Als "Volksetymologien" (oder auch "Reanalysen") bezeichnet man in der Sprachwissenschaft Wortdeutungen nach Maßgabe des je aktuellen Sprachgebrauchs, wenn dieser mit der Sprachschicht, aus der die betreffende Wortbildung stammt, nicht übereinstimmt. Ein Lehrbuchbeispiel für Volksetymologien ist das deutsche Wort "Hängematte": Zur Zeit des Kolumbus machten die Europäer Bekanntschaft mit dem karibischen Wort "hamáka", mit dem die Eingeborenen auf Haiti ihre Schlafnetze bezeichneten. Im Spanischen heißen Hängematten heute noch so, auch das Englische hat in dem Wort "hamock" die ursprüngliche Wurzel konserviert. Im Niederländischen und im Deutschen aber bot sich die lautliche Interpretation als "Hangmat" bzw. "Hängematte" an -- eine volksetymologische Reanalyse unverständlich gewordenen Sprachmaterials. Beinahe alles, was uns in Ortsnamen an 'echte' deutsche Wörter erinnert (zum Beispiel die Kühe in "Kühbach", die Fische in "Fischau", die Hirsche in "Hirschau" und die Bischöfe in "Bischofsheim"), ist nach Vennemann ein Resultat von Volksetymologien. Ältere Belege dieser Namen nämlich zeigen Wortstämme, die sich auch in anderssprachigen Ortsnamen wiederfinden, wo sich keine bzw. eine andere Volksetymologie angeboten hat. So zeigt sich zum Beispiel die vaskonische Wurzel "ibara" für "Tal, Flußmündung" im Deutschen oft in Form von Ortsnamen mit "Eber-" (zum Beispiel "Eberswalde", "Ebersberg"); im Französischen, wo diese Assoziationsmöglichkeit ausfällt, meist als Bildungen mit "Évry-" oder "Ivry-" (zum Beispiel "Évry-les-Châteaux", "Ivry-sur-Seine"). Daß man aus volksetymologischen Ortsnamen keine Namenserklärungen ableiten kann, zeigen besonders einprägsam die deutschen Siedlungsnamen auf "-furt": "Ochsenfurt" als "eine für Ochsen gangbare Furt", "Schweinfurt" als "eine für Schweine gangbare Furt" zu deuten, das mag ja zur Not noch angehen. Aber was ist dann mit "Frankfurt", "Haßfurt", "Katzenfurt", "Gänsefurt", "Götzenfurt", "Honigfurt" und "Käsevort"?

Die Überlieferung alten Sprachmaterials funktioniert ganz offensichtlich nach dem Prinzip Flüsterpost: Das Ergebnis zeigt oft nur noch entfernte Ähnlichkeit mit dem Ursprung. Und damit nicht genug. Denn was die Ortsnamen betrifft, trat mit dem christlichen Mittelalter und seinen Städtegründungen noch eine weitere Fehlerquelle hinzu: eine Reihe von Gründungslegenden und -urkunden, die historische Gewißheit vorgaukeln, wo -- wenigstens sprachgeschichtlich -- keine herrscht. Die aus dem Mittelalter überkommenen Ortsnamen spiegeln gewiß verläßlich das Verständnis der Zeitgenossen wider. Da mittelalterliche Städte aber nicht wie moderne Trabantenstädte auf freiem Feld gegründet, sondern auf alte Siedlungsgebiete aufgepfropft wurden, sind die mittelalterlichen Urkunden keine verläßlichen Belege für die ursprüngliche Bedeutung des schon damals alten Ortsnamens.

Daran, daß Sprache sich im Laufe der Zeit verändert, Volksetymologien entstehen und sich kulturell bedingte Fehldeutungen etablieren, würde auch kein Sprachhistoriker zweifeln wollen. Daß Vennemanns Thesen zur Toponomastik noch immer sehr umstritten sind, liegt vielmehr daran, daß sie eine recht waghalsig wirkende Rekonstruktion der frühen Siedlungsgeschichte Europas voraussetzen. Vennemann nimmt an, daß vor der Ausbreitung der Indogermanen der Teil Europas nördlich der Alpen und der Pyrenäen von einem Hirtenvolk besiedelt war, das sich mit dem Rückzug der letzten Eiszeit (ca. 10 000 Jahre vor Christus) von Südeuropa aus über den Kontinent verbreitet hatte. Diese europäische Urbevölkerung habe eine Sprache gesprochen, deren einziger bis heute überlebender Zweig das Baskische ist. Daß sich diese Sprache nur in einem kleinen Teil Europas erhalten konnte, liegt seiner Meinung nach daran, daß die Indogermanen die Kultur des Ackerbaus mitbrachten und damit die überlegene Kultur darstellten. Das Vaskonische überlebte daher nur noch in einzelnen Rückzugsgebieten. Relikte der frühen Sprache allerdings seien in den indogermanischen Wortschatz eingegangen, darunter vor allem Ortsbezeichnungen. Denn wer zuerst da ist, benennt die Örtlichkeit. -- Mit dem Einwand, das sei alles hochgradig spekulativ, ist man schnell bei der Hand, aber an alternativen Theorien mit vergleichbarem Erklärungswert mangelt es bislang. Die frappierend einfachen vaskonischen Ortsnamenerklärungen sprechen für sich. Und Cavalli-Sforzas, von Vennemanns sprachwissenschaftlichen Rekonstruktionen unabhängig unternommene Genanalysen, die Aufschluß über die Verwandtschaft der heutigen Bevölkerung Europas geben sollten, widersprechen seinen Thesen zumindest nicht.

Da Vennemann in München lehrt, war es naheliegend, daß er auch den Namen der bayerischen Landeshauptstadt einmal genauer unter die Lupe nahm. Die übliche Deutung, die sich auf mittelalterliche Urkunden berufen kann, lautet: "München" bedeute "apud Munichen", also "bei den Mönchen". Vennemann wandte ein, daß ein "apud monacos" erstens noch kein "apud Munichen" sei, daß jedenfalls keine sinnvoll zu rekonstruierende Lautentwicklung vom einen zum anderen führe, und daß die Siedlung zweitens viel älter sei als das christliche Mittelalter bzw. das Kloster Schäftlarn, auf das die Rede von den Mönchen dann bezogen wurde. Er schlägt eine Deutung aus der vaskonischen Wurzel "mun-" bzw. "munica" vor, die in etwa "Ufer, Böschung, Bodenerhebung" bedeutet und sich somit gut auf das Isarhochufer als primäres Siedlungsgebiet Münchens beziehen ließe. Ob diese Deutung aber jemals Eingang in den Heimat- und Sachkunde-Unterricht der Grundschulen im katholischen Bayern finden wird, ist mehr als fraglich. -- Und damit wären wir wieder bei der Religion.

Auch für den Islam werden Luxenbergs Ergebnisse nur von bedingtem Interesse sein. Denn eine Religion gründet sich eben nicht allein auf die geoffenbarte Wahrheit am Anfang der Überlieferungsgeschichte, sondern auch auf diese Geschichte der Überlieferung selbst. Und die ist so, wie sie nun einmal war. Sie läßt sich nicht einfach umschreiben oder 'korrigieren'. Die Geschichte einer Kultur als eine Kette von Anpassungen aufzufassen -- Anpassungen an die unterschiedlichen Lebenswelten, in denen der kulturstiftende Text über die Jahrhunderte oder Jahrtausende als Orientierungshilfe dienen sollte --, das mag vom wissenschaftlich 'aufgeklärten' Beobachterstandpunkt aus sinnvoll erscheinen. Aus der Innenperspektive jedoch ist Geschichte vor allem einmal eigene Geschichte, das heißt Identität. In der berühmten Ringparabel aus Lessings Nathan der Weise heißt es entsprechend zum Problem der konkurrierenden drei Buchreligionen:

"Denn gründen sich nicht alle auf Geschichte?
Geschrieben oder überliefert! -- Und
Geschichte muß doch wohl allein auf Treu
Und Glauben angenommen werden? -- Nicht? --
Nun welchen Treu und Glauben zieht man denn
Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?
Doch deren Blut wir sind? doch deren, die
Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe
Gegeben? die uns nie getäuscht, als wo
Getäuscht zu werden uns heilsamer war? --"

Der Islam basiert auf der Geschichte der Koranauslegung, wie sie nun einmal verlaufen ist. Der je individuelle Glaubensakt bleibt von Fragen der 'richtigen' oder 'falschen' Schriftauslegung relativ unberührt. Marktschreierische Voraussagen einer grundsätzlichen Infragestellung zentraler Punkte der islamischen Lehre, zu denen Luxenbergs Buch einzuladen scheint, wären also fehl am Platze.

Doch das Lessing-Zitat hier im Sinne eines postmodernen Relativismus zu instrumentalisieren, wäre ebenso unangebracht. Die Idee der möglichen Versöhnung der drei Buchreligionen, wie Lessing sie in seinem Nathan ausgeführt hat, plädiert nicht für blinde Toleranz, sondern ist von einem für alle drei Religionen gleichermaßen als gültig erachteten Humanitätsideal getragen. Der Ringstreit (das ist: der Streit um die wahre Religion) wird also letztendlich doch noch vor einen Richter gebracht, und der beschließt kurzerhand: "Der echte Ring vermutlich ging verloren". Auf dieser Grundlage nun lautet sein Richterspruch:

"Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe jeder von euch um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott,
Zu Hülf'! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euren Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad' ich über tausend tausend Jahre,
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen,
Als ich; und sprechen."

Bewährung also, nicht Tradition, ist das entscheidende Kriterium. Die Bewährung der Religion nach Maßgabe der Menschlichkeit, ja der Liebenswürdigkeit: Jeder der drei Söhne soll -- anstelle des Beweises, daß er den echten Ring vom Vater erhalten habe -- "die geheime Kraft" des Rings, "vor Gott und Menschen angenehm zu machen", durch sein Verhalten zu erweisen suchen. Einzig der Erfolg in der Liebenswürdigkeit soll vor dem letzten Richter zählen, gleich ob dieser Erfolg von der Kraft des echten Rings herrührt oder von dem Träger selbst (dem Träger eines falschen Rings womöglich).

Verwandtschaften zwischen den Religionen herauszustellen, wie Luxenberg und Lapide es tun, heißt nicht, eine Homogenität herzustellen, wo kulturgeschichtlich keine vorliegt. Jede Tradition kann ihr eigenes Recht für sich beanspruchen, und dazu gehört auch das Recht zu 'Fehllektüren' -- sofern diese sich nur bewähren. Wenn nun aber die Selbstaussagen der fundamentalistischen Selbstmordattentäter, daß sie nicht für diese Welt, sondern für das Jenseits arbeiten, zutreffend sind, und wenn es stimmt, daß die Huris des islamischen Jenseitsversprechens dabei keine ganz geringe Rolle spielen, dann mag es ja doch sein, daß eine Revision von 'Fehllektüren' des Koran der Bewährung der islamischen Religion in der Welt der "Kindes-Kindeskinder" zuträglich sein könnte.

 

autoreninfo 
Dr. Katja Mellmann Dozentin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität München seit 2000. Studierte 1994-2000 deutsche und französische Sprache und Literatur in München und promovierte dort 2005 mit einer Arbeit über Emotionalisierungsstrategien in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Veröffentlichungen: "E-Motion -- Being Moved by Fiction and Media? Notes on Fictional Worlds, Virtual Contacts, and the Reality of Emotions", in: PsyArt -- An Online Journal for the Psychological Study of the Arts, vol. 6, 2002, http://www.clas.ufl.edu/ipsa/journal/2002_mellmann01.shtml. -- Emotionalisierung - Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Studie zur Literatur der Aufklärungsepoche. Paderborn 2006.
Homepage: http://www.mellmann.org/
E-Mail: katja.mellmann@germanistik.uni-muenchen.de

 

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