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korrespondenz -> berlin, 16. dez 2010
 
 
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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit -- eingeschneit in Berlin im Winter 2010

von Marie Elisabeth Müller

Berlin, 16. Dez 2010_  Meine Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits sind vor meiner Geburt gestorben oder als ich noch in Babysachen steckte, und meine Erinnerung an sie setzt sich aus diffusen Nebelbildern und geborgten literarischen Vorbildern zusammen. Übereinstimmend, nach überlieferten Geschichten meiner Eltern und Verwandter, haben uns meine beiden Großväter durch einen überraschenden, schnellen Tod verlassen; beim Zeitungslesen, beim Mittagessen, mitten aus ihrem Alltag gerissen. Daran dachte ich und rief mir unwillkürlich noch Rilkes Großvater am Beginn des Malte Laurids Brigge in Erinnerung hinzu, als ich vor kurzem selbst zum ersten Mal im Hospital lag, in Berlin-Mitte, und schmerzgeplagt aber vergnügt auf den Deutschen Dom und den Funkturm am Alex blickte. "Also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier." Eine ambivalente Erfahrung, denn glücklich gerettet war ich, aber auch neu ausgestattet mit dem plötzlich ganz realen Wissen, einen Tod in mir zu tragen, sozusagen. Wie Maltes Großvater, dem man ansieht, "dass er einen Tod in sich trug" und der sich wütend durchs ganze Haus transportieren lässt, zornig über zwei Monate lang sein Sterben seiner Umwelt aufbürdet und so unvergesslich macht. Ähnlich wie der Anfang August 2010 verstorbene deutsche Regisseur und Performer Christoph Schlingensief, der den Lungenkrebs seit Ausbruch seiner Krankheit als globales Passionsgeschehen in öffentlicher Endlosschleife inszenierte. Schon in seiner Inszenierung von Walter Braunfels' Oper Jeanne d'Arc -- Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna 2008 an der Deutschen Oper Berlin schwebt drei Mal eine riesige Lunge vom Bühnendach ein; die beim ersten Mal, in magisches Licht getaucht, an einen weit verzweigten Lebensbaum erinnert, dessen Bild sich assoziativ in die Matrix des Überlebenskampfes auf der Bühne einfügt. Doch die mehrfachen Wiederholungen dieser Bildzufuhr zerstören dann den anfänglich zarten Eindruck und alle indirekten Assoziationsspielräume, die riesige Lunge wirkt nun wörtlich, massiv und aufdringlich. Insgesamt gelingt in der multimedialen Inszenierung zumindest phasenweise im ersten Teil der acht Aufzüge die Gegenüberstellung unterschiedlicher kultureller Konzeptionen im Umgang mit dem Tod geliebter Menschen. Während im Vordergrund der mythisch überhöhte Todeskampf der Bühnenfigur Jeanne d'Arc mit privaten Genie-Filmbildern von Schlingensief selbst wechseln, laufen im Hintergrund großflächige Filmaufnahmen nepalesischer Verbrennungsrituale, bei denen jeglicher individueller Persönlichkeitskult fehlt. Die Flammen zündeln am Kopf einer männlichen Leiche, die in absehbarer Zeit im Nichts verschwinden wird. In diesem konträren Bilderreigen begegnen sich diachrone und synchrone Zeitkulturen auf fruchtbare wenn auch weiterhin strikt entgegen gesetzte Weise. Aber der mit persönlichen Attitüden und im zweiten Teil der Oper auch mit zunehmend beliebigen Bildelementen überfrachteten Inszenierung gelingt kein nachhaltiger Sinngewinn. Wie anders reagiert Marcel Proust in À la recherche du temps perdu. Demütig gegenüber Zeit, Dingen und Bildern, umkreist er deren Sinnfülle geduldig und verleiht den Dingen eine multiple Stimme. Er, der sich mit zunehmender Erkrankung ins Bett zurückzieht und aus minimalen Körperverlagerungen ein poetisches Kaleidoskop der Erinnerungen evoziert, tritt eine versöhnliche, stille Reise auf der Suche nach der verlorenen Zeit an. Wesentlich schriller, aber auch wohltuend anders die distanzierte Ironie und Selbstironie des zeitgenössischen US-amerikanischen Rappers Kanye West, der sich in seinem neuen Album My Beautiful Dark Twisted Fantasy 2010 einem künstlerischen Erinnerungsparcours aussetzt, der virtous in einem absolut zeitgemäßen Sound mündet. West unterwirft sich keinen Begrenzungen musikalischer Genres und lyrischen Stils. Euphorisch erklärt er beim Spontanbesuch in der New Yorker Redaktion des Rolling Stone-Magazins: "Art comes from excitement and joy! You have to bring the two things together to not be limited by the art form in fact -- you have to bring it to another level". Souverän und frech mischt der kontroverse Rap-Star traditionelle Sounds aus Rap, HipHop, Disco, Funk, lyrische Bilder und rhetorische Muster auf unterhaltsame und provozierende Weise zu einem neuen genuinen Sound. Zugleich gibt West erfolgreich den "Bad Boy of Music", der alle Linien kreuzt, "Let's have a toast for the assholes" (Runaway), und sich und andere nicht immer furchtbar ernst nimmt, "Life can be sometimes so ridiculous" (So appalled).

"Lächerlich!" -- so beurteilen die Berliner im Winter 2010/11 sicherlich ohne Abstriche den Umgang ihrer Stadtverwaltung und der öffentlichen Verkehrsbetriebe mit Schnee und Eis. Wiederholt sich in Berlin doch, übrigens wie in vielen europäischen Großstädten, seit den ersten Dezembertagen das gleiche Schnee- und Eis-Chaos wie schon im vergangenen Winter. So wirkt das Streusalz angeblich bei den real erreichten Minusgraden nicht, auch reicht die bestellte Menge nicht aus, der öffentliche Verkehr bricht, das ist sowieso klar, tagelang fast zusammen, auch die großen Flughäfen werden selbstverständlich stunden- bis tagelang geschlossen, denn bereits Anfang Dezember mangelt es an Entfrostungsmitteln für die Flieger, und genauso überraschend breiten sich erneut Eisplatten auf Bürgersteigen und Nebenstraßen aus. Tja, der Winter überrascht jedes Jahr aufs Neue! Denselben Überraschungswert hat gegenwärtig in Deutschland wohl nur noch die Erkenntnis, dass wir in einer globalen Welt leben, in der sich die wirtschaftlichen und politischen Koordinaten verlagern und neue Allianzen geschmiedet werden müssen. Dazu gehört der schwindende Einfluss der USA und die Einsicht, dass hegemoniale Machtansprüche nicht mehr dauerhaft realisiert werden können. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass die Zeit der homogenen Kulturkreise endgültig vorbei ist, und europäische Gesellschaften Migration als Potential benötigen und gezielt positiv steuern sollten. Auch die Einsicht dürfte sich weiter verbreiten, dass im internationalen Kontext bei weltpolitischen Fragen zukünftig Kritik aus Beijing oder Cairo auch schon einmal relevanter sein kann als die Depeschen aus Washington oder Paris. Mit Verzögerung hat die in Philosophie, Postkolonialismus und Sprachkritik geschulte Denktechnik der Dekonstruktion nun auch die deutsche Wahrnehmung der Weltpolitik erreicht. Vor diesem Hintergrund wirkt aktuell die fast schon manische Fokussierung von Wikileaks überraschend, deren zentraler Aufklärungswille und Dokumentenservice sich maßgeblich auf die zeitgenössische US-Diplomatie bezieht. Abgesehen von dem Irrglauben, dass die Veröffentlichung diplomatischer Depeschen per se Transparenz und Wahrheit schaffe, hätte man sich ein solches Vorgehen einige Jahrzehnte früher herbei gewünscht, als das imperialistische US-Imperium seinen weltumspannenden Machtanspruch konspirativ und militärisch durchzusetzen versuchte und durchsetzte. Heute aber vermisst man Dokumente zu den diplomatischen Strategien und Diskursen anderer weltpolitischer Großspieler.

Nun, man könnte meinen, da sind all diejenigen gut dran, die die grundlegende Begabung haben, glücklich zu sein, Glück genießen zu können. Seinem Roman Generosity. An Enhancement (dt. Das größere Glück) stellt der US-amerikanische Schriftsteller Richard Powers 2009 den Satz von Albert Camus voran, "La vraie générosité envers l'avenir consiste à tout donner au présent." Die uns naturgemäß unbekannte Zukunft erfüllt sich durch eine erfüllte Gegenwart. Aber in dem komplexen Roman steht die glückliche und glückstrahlende algerische Protagonistin Thassadit Amzwar unter dem Generalverdacht, an Hyperthymie zu leiden; einem genetischen Defekt, der ein dauerhaftes Glückslevel verursachen soll. So viel glückliche Ausstrahlung macht misstrauisch. Die wissenschaftliche Sequenzierung ihres Genoms und folgende öffentlich-mediale Aufmerksamkeit leitet eine kommerzielle Verwertungskette der abstrakten Kodierung ein, die die empirische Welt ad absurdum führt und Thassa in die Flucht schlägt. Schließlich bleibt, wie üblich bei emotionalen Kontexten, alles eine Frage der individuellen Entscheidung, woran will man sich halten: an Gefühle oder Sequenzierung, an Empirie oder Determinierung, an Gegenwart und Jetzt oder an Planung und Später. Vielleicht bedeutet es Trost, dass die Suche nach der Zeit erst mit dem Tod endet; vorher können alle Entscheidungen revidiert und modifiziert werden. Der Glücksindex "Gross National Happiness" der New Economics Foundation, 1972 im Himalaya-Königreich Buthan eingeführt, macht es sich da einfacher. Nach einem variablen Schlüssel ergibt sich der Glücksquotient aus physischem und psychischem Wohlbefinden, Bildung, Zeitnutzung, Intensität des Zusammenlebens und guter Regierungsführung. Daraus spricht die Erfahrung, dass wirtschaftlicher Wohlstand allein nicht glücklich macht und nicht alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen erreicht. Vermutlich haben wir es hier mit einer seltenen kulturellen Universalie zu tun: Das Nichts ist erst nach dem Tod erstrebenswert._//
 

autoreninfo 
Dr. Marie Elisabeth Müller , geboren 1966 in Düsseldorf, ist Literatur- und Filmwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Eigene Textagentur MEMPLEXX. Autorin, Dramaturgin und Journalistin für Fernsehen, Hörfunk, Print und Online-Medien. Von 1993 bis 2004 Redakteurin, Regisseurin und Autorin für SWR2. Von 2004 bis 2008 literaturwissenschaftliche DAAD-Lektorin an der University of Nairobi, Kenia.
Homepage: http://memplexx.de/
E-Mail: mem@gmx.com
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