Berlin, 06. Mär 2010_ Ein
schwarzer Tresen. Ein geladenes Gewehr. Hinter dem Tresen eine Zielscheibe. Ich
nehme das Gewehr hoch, lege an, visiere die rote Mitte der Zielscheibe an und -
Knall, Blitz - ein Treffer. Habe ein Bild geschossen. Mein Bild. Halte auf dem
Bild das Gewehr auf mich selbst gerichtet und drücke ab. Fotoshooting -
wörtlich genommen. Eine Art Selbstschussanlage.
"Legen Sie selbst an!", heißt es in der Ausstellung
"SHOOT! Fotografie existenziell", die vom 4. Februar bis zum 3.
April 2011 im C/O Berlin zu sehen ist. Im Zentrum der Ausstellung steht die
Rekonstruktion einer historischen Jahrmarkt-Schießbude. Eine
Selbstauslöser-Installation, mit der der Besucher die Erfahrung machen kann,
welche Lust es bereitet, ein Porträt von sich zu
schießen.
"Wie die Kamera eine Sublimierung des Gewehrs ist, so ist das
Abfotografieren eines anderen ein sublimierter Mord", so beschreibt es
Susan Sontag in ihrem Essay "Über Fotografie". Anlegen, zielen,
abdrücken, schießen -- wer das Ziel trifft, begeht im C/O Berlin einen
fröhlichen Selbstmord. Fein fotografisch dokumentiert, locker und flockig, als
wenn man sich auf dem Jahrmarkt eine Blume er-schießt.
Die in der Foto-Ausstellung im C/O Berlin präsentierte
Schießbuden-Installation hat es wirklich gegeben: Sie tauchte nach dem Ersten
Weltkrieg als Jahrmarkt-Attraktion auf. "Fotoschuss" nannte sich
der kuriose Budenzauber. Für den Besucher der Kirmes bestand die spielerische
Herausforderung darin, sich am Schießstand mit sich selbst zu duellieren. Als
Foto-Trophäe konnte der eigene Abschuss hernach mit nach Hause genommen
werden.
Die bizarre Faszination, sein eigenes Ego als Zielscheibe zu verwenden, zog
viele Menschen in ihren Bann. Eine ganze Wand im C/O zeigt Jack Nickolson, das
Gewehr im Anschlag, auf sich selbst zielend. Der Fotograf ist der Jäger, das
Modell das Wild, dies sind oft verwendete Bilder, um die Psychologie des
Fotografiertwerdens zu beschreiben. Beim Fotoschuss wird dieser Prozess
karikiert: Hier zielt der Jäger auf sich selbst; das Wild erlegt sich
eigenständig; der Schütze wird zur Beute.
Viele berühmte Künstler wurden durch die Jahrmarkt-Schießbude zum
Selbstporträt mit Waffe verführt. Darunter Intellektuelle wie Jean Cocteau,
Federico Fellini, François Truffaut und Jean-Paul Sartre. Auch Simone de
Beauvoir, die Grande Dame des Feminismus, gibt sich selbst die Kugel. Fröhlich
Suizid begehen auch Juliette Gréco, Man Ray, Henri Cartier-Bresson, Brassaï und
Robert Frank. Die Ausstellung beleuchtet diese fotografischen
Selbstzerstörungen und spürt im Bild der Frage nach, inwiefern jeder
Schnappschuss auch ein Abschuss ist.
Clément Chéroux, Kurator am Centre Pompidou, Paris, hat die Ausstellung
zusammengestellt. Er sammelt seit 20 Jahren historische Aufnahmen aus
Fotoschuss-Apparaten. Außergewöhnlich ist die Portraitserie der Niederländerin
Ria van Dijk, die sich seit 1936 jährlich am Jahrmarkt-Schießstand in
Selbstschuss-Pose porträtiert. In über 60 Fotografien lässt sich in den Bildern
das Älterwerden dieser Frau verfolgen.
Eine Fotografie aufzunehmen oder sie zu sehen, bedeutet immer auch, in die
Schusslinie von jemandem zu geraten. Diese Aspekte stehen bei Jean-François
Lecourt und Rudolf Steiner im Vordergrund. Konsequenterweise schießen diese
Künstler scharf -- auf die Fotoschuss-Automaten. Und konsequenterweise weisen
ihre Porträts echte Löcher auf -- die Einschlagspuren der Projektile.
In dem Video von Christian Marclay steht der Betrachter Aug in Aug mit
Clint Eastwood und anderen US-Filmgrößen, die ihn minutenlang beschießen. Ein
Filmdokument zeigt Nikki de Saint Phalle. Sie greift die Idee des Abschießens
mit den Mitteln der Malerin auf. Hier platzen Leinwände und bluten.
Susan Sonntag hat die Ähnlichkeit zwischen einem Fotoshooting und dem
Gebrauch einer Schusswaffe aufgedeckt. Der Fotografierte ist in diesem Sinne
das erlegte Wild, der besiegte Feind. Kein Wunder, dass das Bild, in dem es
einen unwiederbringlich vergangenen Moment festhält, unterliegend an den
eigenen Tod erinnert.
Jeder, der schon einmal mit einer Kamera bewaffnet, durch die Stadt lief,
kennt das Gefühl: Die Kamera verleiht Autorität und Macht. Die Leute schauen
einen an. Wer die Kamera hat, definiert, was gesehen wird, ist überlegen, hat
die Perfektion der Technik auf seiner Seite. Die ohne Kamera sind das Leben,
haben Narben, schwitzen, sind wehrlos, ausgeliefert und zum Abschuss
freigegeben.
Dies ist das Spannungsfeld, welches die Ausstellung Shoot! auf eine witzige
Weise beleuchtet: Auch unser Selbstbild als Shooting-Star ist in diesem Sinne
ein Memento Mori zu Lebzeiten. Ein Bild von sich machen heißt, die Summe der
Eigenschaften begrenzen, sagt Roland Barthes. Und weil es die Summe unserer
Eigenschaften begrenzt, lügt das Bild. Das kretische Paradoxon -- der Kreter,
der sagt, dass alle Kreter immer lügen - lässt sich auch auf Fotografie
beziehen. Alle Bilder lügen -- immer, sagt der Fotograf, der in diesem Sinne
ein Profi-Lügner ist.
Und so streben wir, wenn wir Bilder von uns angucken, nach der höheren
Wahrheit in der Lüge, nach wahren Erkenntnissen über uns. Wir sollten es
lassen, sagt diese Ausstellung. Wer versucht, sich im eigenen Bild selbst zu
erkennen, schießt sich ein Eigentor. Ein Bild ist ein Bild. Ein Schuss ein
Schuss. Und das Ich lässt sich auch im Schießbuden-Ego-Shooter nicht
auslöschen, sondern lächelt fröhlich weiter.
Gemeinsam ist allen Arbeiten der Ausstellung Shoot!, dass ein Schuss das
Werk begründet -- der vernichtende Akt des Schießens wird zum schöpferischen
Prozess. Für den heutigen Betrachter hat dieser Selbstschuss-Selbstauslöser
angesichts der Bilderflut, die ihn umspült, auf jeden Fall auch etwas von einem
Befreiungsschlag.
Die Ausstellung "SHOOT! Fotografie existentiell" ist vom 4.
Februar bis zu 3. April 2011 im C/O Berlin, International Forum For Visual
Dialogues, Postfuhramt Berlin, in der Oranienburger Straße 35/36 in Berlin
Mitte zu sehen. _//