Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba
Humboldt Universität zu Berlin
Wer nicht gerade jeden Montagabend mit PEGIDA unterwegs ist – und das gilt zum Glück immer noch für die übergroße Mehrheit in unserem Land –, der kann gar nicht mehr übersehen, wie vielfältig die Gesellschaft in Deutschland in den letzten Jahrzehnten geworden ist. Und dass uns diese neue Vielfalt auch gut tut.
Damit ist nicht nur die Vielfalt der Herkunft gemeint, die „alte“ und „neue“ Deutsche gewiss auch in manchen Punkten unterscheidet. Auch nicht nur die Vielfalt der Religionen, die ja ohnehin nur noch Bevölkerungsminderheiten in die Kirchen, Moscheen oder Synagogen führen. Und schon gar nicht nur die Vielfalt unserer Pässe, weil wir (noch?) in einer Europäischen Union leben, die nationale Staatsbürgerschaften als eher gleichwertig und damit in gewisser Weise auch als quasi gleichgültig akzeptiert.
All dies macht unsere Vielfalt zwar auch mit aus. Doch die wirkliche und große Vielfalt des Lebens in Deutschland und in Europa praktizieren wir tatsächlich und täglich in unseren Lebensstilen. Also in der Art und Weise, wie wir wohnen und arbeiten, wie wir reden und lernen, wie wir Beziehungen und Freizeiten gestalten. Und auf dieser Ebene des Alltags übernehmen die Lebensstile längst eine wirklich „identitäre“, eine existenzielle Funktion: Ich bin, was ich höre (Musik), was ich trage (Kleidungsstil), was ich esse (Esskultur), was ich glaube (Religion – oder Facebook oder nix). Oft vertreten wir diesen unseren Lebensstil sogar bis zur letzten Konsequenz: nur dies, nur so, nur ich!
Versuchen Sie einmal, einen Fan von Borussia Dortmund ernsthaft davon zu überzeugen, dass auch die Bayern aus München Fußball spielen können. Erklären Sie Ihrem Rap-Musik hörenden Sohn, dass auch Oper, Schlager und Volksmusik ihre Daseinsberechtigung haben. Versichern Sie einer Veganerin, dass auch Kebab-Esser nicht gleich Mörder sein müssen. Und bringen Sie einen Neonazi einmal dazu, Flüchtlinge auch als Menschen anzuerkennen. –
Das ist meist alles andere als einfach und oft unmöglich. Denn wir alle leben eben buchstäblich in und mit unseren Lebensstilen. Und in diese Lebensstile sind auch unsere Überzeugungen und Werte, sind auch unsere Geschichte und unsere Lebensgeschichten, sind auch unsere Ängste und Hoffnungen eingeschlossen. Wer also Fußball spielt oder Zumba macht, wer Party liebt oder sich vegetarisch ernährt, tut dies meist „ganzheitlich“, also voll engagiert und identifiziert.
Wandelnde Lebensstile?
In gewisser Weise verkörpern wir also selbst alle „wandelnde Lebensstile“. Und das veranlasst uns einerseits häufig zu entsprechend bockigem und egozentrischem „Tunneldenken“: Ich bin, ich kann, ich will nur so! Oft aber auch machen uns diese Lebensstile andererseits und umgekehrt gerade auch in besonderer Weise „anschlussfähig“: Denn sie haben auch die gute Eigenart, dass wir sie meist mit anderen teilen. Dass wir sie also gemeinsam mit anderen Personen und Gruppen praktizieren, die wir deshalb eben „verstehen“, weil und solange wir dasselbe tun. Und dies erreichen wir am einfachsten in unseren verschiedenen „Lebensstilgemeinschaften“, denen wir uns im Laufe des Tages anschließen: in der Schule, bei der Arbeit, im Fußballverein, im Konzert, beim Museumsbesuch.
Integration bedeutet deshalb in Deutschland in immer höherem Maße: Einbindung in unsere unterschiedlichen Lebensstile, so wie sie sich als Alltagskulturen vor allem zwischen Schule und Arbeit, zwischen Wohnen und Freizeit entwickeln. Da erstreckt sich mittlerweile eine unglaublich vielfältige Landschaft von Beziehungs-und Gruppenkulturen: in Gestalt von Familien wie Jugendgruppen, von Sport- wie Kunstvereinen, von Nachbarschafts- wie Bürgerinitiativen, von Konsum- wie Musikstilen. Und da funktioniert Integration auch am besten, am schnellsten, am leichtesten: weil wir da etwas zusammen wollen und es gemeinsam tun!
Deshalb sind diese sozialen Formen und kulturellen Formate unseres gemeinsamen Alltags so wichtig: weil sie Globales und Lokales, also große und kleine Welt verbinden. Wir kennen alle die Grundregeln von Fußball oder Fest. Wie sie aber ganz konkret aussehen, in diesem Verein und bei diesem Fest: Da gilt doch oft ein sehr spezifisches „Hier“ und „Wir“.
Und deshalb sehen Jugendgruppen, Cafés, Bürgerinitiativen oder Sportvereine in Dortmund eben doch immer ein wenig anders aus als in Berlin, in Konstanz anders als in Flensburg. Denn in den allgemeinen Zweck von Spaß, von Politik oder von Training bleibt immer noch die spezielle lokale Lebensart eingeflochten: spürbar im Dialekt wie im Geschmack, in der Form der Kommunikation wie der Geselligkeit.
Lokale Kontaktzonen
Dieser lokale Alltag ist es also, in dem wir unsere Lebensstile entfalten und in dem wir uns begegnen. Allerdings eben nur, wenn wir uns weder absichtlich aus dem Weg gehen noch nur unseren Stil akzeptieren. Nur wenn wir bereit sind zur Begegnung und zum Austausch wird dieser lokale Alltag zu einer lebendigen sozialen und kulturellen „Kontaktzone“.
Denn wenn wir uns da hinein trauen, in diesen gemeinsamen Alltag, wenn wir da den Kontakt und Austausch zu anderen suchen und uns nicht vor Fernsehern und Computern zuhause oder in separaten Jugendclubs und Cafés verbarrikadieren, dann lernen wir uns gegenseitig wirklich kennen. Dann erfahren wir vor allem auch mehr über die Lebensstile und die Lebensgeschichten der anderen. Und wir entdecken Unterschiede wie Gemeinsamkeiten neu. Gerade auch im Hinblick auf die Kultur und Geschichte unseres Kiezes, unserer Stadt, unsere Gesellschaft.
Dabei sind wir im Blick auf Geschichte und Kultur fast alle selbst neu und unwissend: Migranten wie Biodeutsche. Und wir merken inzwischen ohnehin, dass gerade diese Unterscheidung immer weniger Sinn macht in einer Gesellschaft, in der das Umziehen wegen Job oder Ausbildung, wegen Wohnung oder Liebe längst normal und alltäglich ist. Deshalb wissen wir oft alle zwar gleich viel über unsere heutigen Lebensstile, jedoch meist wenig über unseren Kiez oder über unsere Stadt, über geschichtliche Hintergründe oder kulturelle Traditionen.
Und dies erklärt dann auch, weshalb so viele von uns in den letzten Jahren damit begonnen haben, oft zusammen mit unseren Kindern oder mit Freunden nun Kunstausstellungen oder Stadtmuseen zu besuchen, Stadtführungen mitzumachen oder Stadtfesten teilzunehmen. Und dies eben nicht als Touristen in fremden Städten, sondern als Einheimische in der eigenen Stadt, die dadurch eben auch zur „Heimat“ werden kann: zu einem Ort, den wir immer besser kennen lernen und in dem wir uns aufgehoben fühlen.
Neue Heimatkunde?
Deshalb führt einer der schnellsten Wege der Integration, verstanden als gemeinsame Beheimatung, über dieses Feld von lokalem Alltag und lokaler Geschichte. Denn wer ihn einschlägt, signalisiert damit, dass er am Gemeinwesen und am Gemeinwohl interessiert ist, dass er neugierig ist auf lokale Geschichte wie Gegenwart und dass er dazugehört zu diesem lokalen „Wir“.
Und es gibt vielfältige Angebote, die dieses „Wir“ gemeinsam zu organisieren versuchen, indem sie – egal welche ethnische Herkunft wir haben oder welche Muttersprache – uns gemeinschaftliche Formen des Austauschs von Erfahrungen und Wissen anbieten. Das sind lokale Kulturvereine und Volkshochschulen, Mieter- und Bürgerinitiativen, Nachbarschaftscafés und Stadtmuseen, Chöre und Theatergruppen, Sportvereine und Gymnastikstudios, Kirchengemeinden und Moscheevereine, Schul- und Parkinitiativen.
Sie alle verkörpern zusammen beides: die Zivilgesellschaft in unseren Städten und zugleich deren lokalen Kulturszene. Wobei dieses Netzwerk sicherlich noch viel offener gestaltet und noch besser verbunden werden kann als bisher. Denn oft vermag man von draußen nicht so recht zu erkennen, was sich hinter der Tür der Volkshochschule oder des Museums, des Nachbarschaftscafés oder der Theatergruppe verbirgt – und vor allem: ob wir da wirklich willkommen sind.
Aber auch dies beginnt sich rasch zu verändern. Nicht zuletzt dank des Internet, in dem so viele dieser lokalen Initiativen mit eigenen Informations- und Kontaktseiten auftreten, die über Ziele, Programme und Teilnahmemöglichkeiten informieren. Diesen Möglichkeiten kann frau und mann individuell nachgehen oder zusammen mit Freundinnen und Freunden. Es bietet sich aber auch an, die Zugänge und den Austausch untereinander institutionell zu organisieren, indem Patenschaften und Partnerschaften, Austausch und Kooperation zwischen Vereinen, Initiativen und Netzwerken fest vereinbart werden. Volkshochschulen und Sprachschulen, Museen und Geschichtsvereine, Bürgerinitiativen und Nachbarschaftscafés, Stadtteilbibliotheken und Jugendhäuser und viele andere sind dazu in der Lage und bereit.
Nun ist es an uns, ihnen Vorschläge dafür zu machen wie ihnen neue Konzepte abzuverlangen. Denn nirgendwo kommen wir schneller zu gemeinsamen und beheimatenden „Wir’s“. – Wenn wir eben dazu bereit sind, unsere eigenen Türen einladend aufzumachen und durch andere Türen mutig einzutreten.