Erzählen / Schreiben… mit „My so-called Life“ / „Willkommen im Leben“

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Du schreibst ein Buch über Schüler? Dorfjugend?“ – „Elftklässler, ja.“ – „Ein Jugendbuch?“ – „Ich… bin nicht sicher.“

  • Zugriff und Stil ähneln US-Erzählern wie John Updike, Stewart O’Nan.

  • Zielgruppe? Leser von 25 bis 40, meine „Generation“.

  • Doch meinen Ansprüchen wird „Zimmer voller Freunde“ erst gerecht, wenn Siebzehnjährige das Buch im Schwimmbad lesen – und in der Clique verleihen.

Passt „Jugendbuch“, als Etikett, auf den Roman? Nur, falls “Willkommen im Leben“ / „My so-called Life“ (1994/95 auf ABC, eine Staffel, 19 Episoden) eine „Jugendserie“ ist. Beides zeigt Alltag, Freundschaft, Familienleben. Macht Teenager zu Perspektivträgern, Erzählern. Doch steht jedes Format, das sich auf Lebenswelten Jugendlicher konzentriert, im Jugend-Genre?

  • 2007 produzierten Edward Zwick und Marshall Herskovitz „quarterlife“, eine (ABC-)Webserie über College-Absolventen, die sich zum ersten Mal auf dem Arbeitsmarkt behaupten.

  • 1999 bis 2002 produzierten Zwick und Herskovitz die ABC-Familienserie „Once and again“ („Nochmal mit Gefühl“) über eine geschiedene Frau Anfang 40, die mit ihrem Partner und je zwei Kindern zwischen 9 und 16 eine Patchwork-Familie wagt.

  • 1987 bis 1991 produzierten Zwick und Herskovitz eine ABC-Serie über junge Eltern und ihre ledigen Freunde, „thirtysomething“ („Die besten Jahre“). Werber, Journalisten, eine Fotografin und eine „Career Woman“, die Arbeit und Familie balancieren.

Willkommen im Leben“ zeigt Alltag (und altersgemäß „tiefsinnige“ Einsichten und Monologe) von Angela Chase, einer behüteten Fünfzehnjährigen aus einem Vorort Pittsburghs, die zum Start der zehnten Klasse Eltern und alte Freunde – Nerd-Nachbar Brian und die häusliche, „anständige“ Sharon – vor den Kopf stößt, als sie ihr Haar rot färbt und sich Punk-Mädchen Rayanne und Hispano-Außenseiter Rickie zuwendet.

19 Episoden erzählen vom Abnabelungsprozess zu ihren Eltern und Angelas erster, oft tragikomischer Beziehung mit Jordan Catalano, einem Fleecepulli-Jungen mit Gitarre, altem Cabrio und Lese-Rechtschreib-Schwäche.

  • Ich sah „Willkommen im Leben“ 1995/96, mit zwölf.

  • 1997 und 1999, mit 14 und 16, in Nachmittags-Wiederholungen.

  • 2009, mit 26, zur Vorbereitung von „Zimmer voller Freunde“.

Bei jedem Durchgang erschien mir Angelas Leben „authentisch“, „realistisch“, „persönlich“, „dringlich“ – ohne schrille Misstöne, Hysterie, Übertreibungen, Eskapismus und Melodrama, die bei „Beverly Hills, 90210“ oder „Dawson’s Creek“ schnell Überhand gewannen: Stewart O’Nan (Link: Text von mir) nennt seine (Vorstadt-)Romane „domestic fiction“ – und ich verstehe, wenn der Begriff falsche, staubige Assoziationen weckt: Muttis und Blumenbeete, Leben in der Spielstraße, Milch, Kekse, Schwangerschaftsstreifen – die Welt von Pinterest und Chefkoch.de. Eng. Apolitisch. Hohl.

Willkommen im Leben“ – und: O’Nan, Richard Yates, John Updikes „Rabbit“-Romane – sind Beispiele für gelungene „domestic fiction“: In einer Hierarchie menschlicher Bedürfnisse – z.B. in Maslovs Fünf-Stufen-Pyramide: physische Ansprüche, Sicherheit, sozialer Anschluss, Wertschätzung, Selbstverwirklichung – bleiben die Ziele von Thriller- und Fantasy-Figuren oft (langweilig, für mich uninteressant) auf der untersten Ebene: „Die Pferde brauchen Futter!“, „Wir müssen Obdach finden, bevor es dunkel wird!“, „Jemand muss rein – und meine Tochter da raus holen!“.

domestic fiction“ folgt Menschen, die grundsätzlich sicher sind: Kein anderes Genre kann so differenziert, zeitbezogen, offen Fragen zu Identität, Familie, Elternschaft, Sexualität, Lebenszielen, Gemeinschaft stellen. Und während die Ziel- und Altersgruppen der Zwick-/Herzskovitz-Serien ständig wechseln, bleibt die Arbeitsweise der jeweiligen Serien-Autoren dieselbe: eine Gruppe Schreiber sammelt „authentische“, „realistische“, „persönliche“, „dringliche“ Alltags-, Generations- und Lebenserfahrungen. Erlebnisse, so mundane, dass sie jeder (er-)kennt. Und – hier wird es Kunst und Kunstgriff – hängt diese Erkenntnis-Nuggets an Figuren und Figurensprache, so eigensinnig, dass sie einmalig / authentisch wirken:

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Im August 1994, am Ende des Pilotfilms von „Willkommen im Leben“, kommt Angela nach Mitternacht zurück nach Hause. Sie streift die Schuhe ab und steigt barfuß die Treppe hoch, um niemanden zu wecken. Von oben fällt Licht auf ihr rot gefärbtes Haar. Und vorne, im Schlafzimmer der Eltern, läuft der Fernseher: Ihre Mutter sitzt alleine auf dem Ehebett und schaut durch alte Alben oder Adressbücher. James Stewart, in schwarzweiß und ohne Ton, sagt auf dem Bildschirm seiner Tochter gute Nacht. Angela lehnt den Kopf an den Türrahmen. „Meine Mutter wurde adoptiert“, sagt sie im Off. „Eine Zeit lang hat sie ihre richtigen Eltern gesucht.“ Sie macht eine Pause. „Das tun wir wohl alle.“ [Zitat aus „Zimmer voller Freunde“]

Als Teenager traf „Willkommen im Leben“ bei mir auf große, größte Resonanz:

  • Fast nichts passt / ereignet sich: Angela verbringt viel Zeit damit, still zu klagen, dass ihr Leben nur sehr langsam, schwerfällig Fahrt aufnimmt. Erwachsenwerden, das ist Warten, die Zähne zusammenbeißen, die Nerven behalten. („I thought, at least, that by the age of 15, I would have a love life. But I don’t even have a ‚like‘ life.“)

  • Oft missglücken Angela und ihren Nicht-Mehr- oder Noch-nicht-so-richtig-Freunden die banalsten Vorhaben (Tanzen gehen, ein Konzert besuchen, zu selbstbezogenen, nervösen Eltern durchdringen)… ohne, dass die Autoren dabei einladen, über Pech, Missgeschick und pubertäre Beschränktheit der Beteiligten zu lachen.

  • und, in den Worten des „TV Tropes“-Wikis: „Often, the show took a comic plot and subverted it by playing it for drama (and, arguable, realism) rather than for humor – and this was both much funnier and much more painful than it would have been as a comedy.“

Die tagesaktuellen, akuten „Klappt es? Misslingt es?“-Spannungsbögen einzelner „Zimmer voller Freunde“-Kapitel bleiben oft in dieser – sehr unspektakulären – Größenordnung:

  • Darf Antje die Wohnung ihrer Mutter sehen, hinter deren Rücken?

  • Soll Frank am 18. Geburtstag durch die Schule trotten?

  • Kann Stefan Stoff zur Rede stellen, bevor die Stadtbahn kommt?

Die größte Arbeit / Mühe an „Zimmer voller Freunde“ ist, 420 Seiten lang Spannung und Dringlichkeit zu schüren für eine lose Gruppe pubertärer Figuren, die – einerseits – stets ganz, ganz oben auf der Pyramide über Selbstbilder und Rollen philosophieren… aber – andererseits – vor jedem selbstbestimmten Schritt die dümmsten, dörflichsten „Hoffentlich hat Papa heute Abend Lust, uns in die Disko zu fahren!“-Konflikte lösen müssen:

Ich war zweimal in Sassis Flur.

[…] Ich war elfmal bei Stoff, gut fünfzigmal bei Fred, ich war dreihundertmal bei Frank und ich war viermal bei den Langs, viermal in 28 Monaten, denn Dawson hat den Führerschein, ein Ruder- und das Motorboot; und jedes Prolo-Kind in jeder Stadt hat Straßenbahnen, Züge, einen Nachtbus. Aber von meinem Dorf zu Helena sind es zwölf Kilometer. Hinter die Au, zu Fred, beinahe 15. Runter in Danis Dorf fast 19. Das ist doppelt so weit wie von der Bronx zum Central Park.“ [Zitat aus „Zimmer voller Freunde“]

Der Ton, in dem „Willkommen im Leben“ von Jugend, Erwachsenwerden und den – manchmal: läppisch narzisstischen; manchmal: hochkomplexen, drastischen – Fragen ganz oben auf der Pyramiden-Spitze erzählt, ist „authentisch“, „realistisch“, „persönlich“ und „dringlich“. Als Elftklässler, Auf-den-Schulbus-Warter, Leser, Zuschauer half mir dieser Ton, eine artifizielle, oft sehr pointierte US-Serie sehr ernst und sehr persönlich nehmen zu können (ohne mich, wie bei „90210“ und „Dawson’s Creek“, ständig latent „betrogen“ und manipuliert zu fühlen). Als Autor, heute, hilft mir derselbe Ton, sehr persönliche, biografische Momente zugänglich, relevant, auf-der-Decke-im-Schwimmbad-lesefreundlich zu erzählen.

Jugendbuch“ ist (aus Gründen, die ich im nächsten Teil erläutere) kein guter Leit- und Sammelbegriff für meine Arbeit. „domestic fiction“ – so un-sexy, apolitisch und „Schatz? Da ist schon wieder Laub in unserer Regenrinne!“ das klingt – passt besser. Und greift tiefer:

[…a]ls mir in der Grundschule die Freunde fehlten, las ich „TKKG“.

Als ich kein Super-NES bekam, las ich die Spiele-Tests in Mega Fun oder Total!.

Als ich vor „Akte X“ zu Bett gehen musste, las ich den TeleVision-Episodenguide.

Und heute? Seit Sassis Zorn die beiden einzig nennenswerten Mädchen meiner Welt verstören (und fast verjagen…) konnte? Blicke ich auf Kunstfiguren wie Dawson, Joey, Jen. Denn alles, was ich fühlen und erleben will, wird irgendwo für mich beschrieben und erklärt. In einem Buch, in einer Serie, in Zeitschriften, in einem Song, im Netz. In den Erzählungen und Selbstzeugnissen fremder Menschen! Wann treffe ich geschlechtsreife, reale junge Frauen? Wo bleiben echte Kellys und Rayannes? Ich sprach noch nie mit einer richtigen Studentin. Ich saß noch nie bei einer echten Achtzehnjährigen im Auto. Vor einer wildfremden und dubiosen Chrissy, vor einer schwabbeligen Dani, vor einer stutenbissigen  […] Nina […] habe ich oft beinahe… Angst. Denn ich weiß sehr genau, wie Major Kira oder Lois Lane agieren. Ich habe Miss Parker aus „Pretender“ weinen sehen! Doch keine einzige geglückte weibliche Figur im echten Leben. Weiß Stoff, wie man sich fühlt, wenn man allein über den Schulhof muss? Oder gezwungen ist, sich auszuziehen, vor einer Doppelstunde Sport? Oder am Rand von einer Party steht, auf der sich niemand freut, dass man gekommen ist?

Ich brauche die Teenager im Fernsehen (und, im Notfall: Frank) damit ich weiß, was für mein Alter gut, gesund, normal und tolerabel ist. Ich lerne – ich lebe! – durch Filme und Serien.“ [Zitat aus „Zimmer voller Freunde“]

Willkommen im Leben“ war bis heute der beste dieser „Lehrer“. Und – fast 20 Jahre nach der ersten Ausstrahlung – weiterhin sehenswert.

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Stefan Mesch schreibt an “Zimmer voller Freunde”, seinem ersten Roman…

…und – hin und wieder – über Serien und Fernsehen, z.B. hier und hier.

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