Anonymous

Unter diesem Namen macht eine lose Gruppe von Computerfreaks seit Jahren das Internet unsicher: Mail-Angriffe, gehackte Seiten, lustiger Unfug. Doch irgendwann wurde das Netzwerk zu mächtig, heute greift es in Gesellschaft und Politik ein - und keiner weiß, wohin das alles führen soll. Die Geschichte einer Organisation, die nie eine Organisation sein wollte.

Montag, der 27. Dezember, kurz nach 18 Uhr, in einem Internetchat namens Operation_BOA. Die Abkürzung steht für Bank of America; die Aktivisten des Onlinekollektivs Anonymous wollen die Webseite der Bank heute zum Absturz bringen. Ein Koordinator heißt »Tony the Tiger«, er gibt im Chat das Kommando: »FIRE FIRE FIRE Target URL: 171.159.192.15 PORT 443«. Die Webseite soll mit einer Software namens Low Orbit Ion Cannon angegriffen werden, deren eigentlicher Zweck darin besteht, die Leistungsfähigkeit von Servern zu testen. Aber wenn

Die Aktion hat ein Nutzer mit dem Pseudonym »Zarly« am 18. Dezember in einem Anonymous-Forum angeregt. Ein paar Tage zuvor hatten die Aktivisten die Seiten von Mastercard und Visa »abgeschossen«, Zeitungen in aller Welt berichteten darüber. Den Angriffen lag dasselbe Motiv zugrunde wie der Operation_BOA: Die attackierten Firmen hatten sich geweigert, Geldspenden an das Enthüllungsportal Wikileaks weiterzuleiten. Um 19.11 Uhr, eine Stunde, nachdem der Angriff begonnen hat, meldet Tony the Tiger: »Bank of America ist abgeschossen! Feuert weiter!« Ein paar

Wer steckt hinter Anonymus? Teenager in New York, Studentinnen aus München oder Hacker aus Shanghai? Alles möglich. »Nenn dich Anonymous, und du bist Anonymous, so einfach ist das«, sagt ein 17-jähriger Schüler aus Niedersachsen, der beim Angriff auf die Bank of America dabei war, »ich war noch nie bei einer Demonstration, bin in keiner Partei, aber kann mich hier engagieren, ohne irgendwo beitreten zu müssen.«

Anonymous hat den Protest im Internet so einfach gemacht wie das Herunterladen von Songs. Man muss kein Hacker sein, um bei den Cyberattacken mitzumachen. Auch deshalb ist das Kollektiv binnen eines halben Jahres von einer kaum beachteten Computer-Subkultur zu einem weltweiten Phänomen angewachsen, alle paar Tage gibt es neue Ziele: Im Dezember waren es die Wikileaks-Gegner, im Februar die Regierungen in Tunesien und Ägypten, weil dort Blogger verfolgt wurden. Anfang Mai riefen ein paar deutsche Anonymous-Aktivisten dazu auf, die Server von Neonazis anzugreifen. Zuweilen verlegen Anonymus-Mitglieder ihren Protest sogar auf die Straße, wenn es etwa gegen die Scientologysekte geht. Aber auch in der realen Welt bleiben die Demonstranten anonym, sie verbergen ihre Gesichter hinter Masken aus dem Film V for Vendetta.

Das Anonymous-Logo, ein Mann im Anzug, der statt eines Kopfs nur ein Fragezeichen trägt, ist

Gregg Housh ist einer der wenigen Insider, die ihren Namen nennen. Warum? »Ich beobachte Anonymous nur noch.«

Gregg Housh, ein 34-jähriger Programmierer aus Boston, zählt zu den prominentesten Köpfen von Anonymous. Er

So unterschiedlich die Teilnehmer der Anonymous-Aktionen auch sein mögen – sie haben eine gemeinsame Bildsprache

Simon Goddek sagt, dass Anonymous mehr kann als schadenfrohe Hackerattacken: »Es ist ein schlaues Netzwerk.«

Simon Goddek, 26, Managementstudent in Enschede, mit coolem T-Shirt und

Goddek hat sich mittlerweile aus dem Projekt zurückgezogen, um sein

Auch das zeichnet die Anhänger von Anonymous aus: Sie bringen

Mittlerweile besuchen auch viele Schaulustige die Anonymous-Chats, sagt Gregg Housh,

Christopher Grabinski hat einen Werbeclip für Anonymous gedreht. »Vieles an der düsteren Bildsprache ist nur Show«, sagt er.

Eine solche Aktion erfordert – anders als das kurzzeitige Lahmlegen von Firmenwebseiten – fundierte Hackerkenntnisse. Deshalb ist Anonymous seit diesem Angriff endgültig zu einem Synonym für Hackerattacken aller Art geworden. Als die Firma Sony am 26. April bekannt gab, dass durch »unerlaubtes Eindringen« in ihr Computernetzwerk über hundert Millionen Kundendaten geklaut wurden, war sofort Anonymous im Verdacht, zumal einige Mitglieder Anfang April auch angekündigt hatten, den Konzern angreifen zu wollen. Doch hinter dieser Operation steckte lediglich ein Vergeltungsschlag einiger Hacker. Zwei Mitstreiter waren von Sony verklagt worden, weil sie die Betriebssoftware der Playstation manipuliert hatten. Vom Einbruch in die Sony-Server distanzierte sich Anonymous anschließend mit einem Blogeintrag: »Diesmal waren wir es wirklich nicht.« Das kann man glauben oder nicht. Der Sony-Chef hat Anonymous jedenfalls für den Datenklau verantwortlich gemacht, eine Datei mit ihrem Slogan soll sich auf einem der gehackten Sony-Rechner befunden haben. Der Anonymous-Insider Barrett Brown schreibt in einem Gastbeitrag für den englischen Guardian von einer »Hetzkampagne« gegen Anonymous – das Kollektiv sei ein einfacher Sündenbock für kriminelle Datendiebe, weil ja jeder einfach behaupten könne, im Namen von Anonymous zu handeln. Und Gregg Housh versichert: »Ich weiß, dass es keiner von Anonymous war, weil Kreditkartendiebstahl gegen ihre Moral verstößt.«

Auch das kann man glauben oder nicht, Moral ist schließlich

Für einen Fotografen aus Sachsen-Anhalt, der sich im Internet »Lord Nikon« nennt, bedeutet die Liste viel Ärger. Der 25-Jährige wird mit vollem Namen, Adresse und Telefonnummer aufgeführt, als ein Anführer von Anonymous. Am Telefon beteuert er: »Ich kenne diese Gruppe nicht, ich habe nichts mit ihr zu tun.« Er hat sich einen Anwalt gesucht und will nicht mit seinem echten Namen zitiert werden. Sein Internetpseudonym sei recht verbreitet, sagt er, es müsse eine Verwechslung sein. »Ich habe diesen Namen aus dem Film Hackers mit Angelina Jolie.« Nachdem die Liste aufgetaucht war, hat er rund hundert Mails bekommen; teils drückten ihm die Absender als vermeintlich enttarntem Genossen ihre Solidarität aus, teil beschimpften sie ihn als Onlineterroristen und bedrohten ihn. Sein Anwalt hat ihm geraten, zur Polizei zu gehen, um Anzeige zu erstatten. Genauer gesagt, wie könnte es auch anders sein im Fall Anonymous: Anzeige gegen unbekannt.

Fotos: Thomas Rabsch, Rick Friedman