Britzekalt, der Dezembertag. Mit elchroten Ohren und Atemwölkchen, groß wie Kohlensäcke, bin ich frühmorgens auf dem Weg zur Haltestelle. Das Glitzern der Schuhabdrücke im frisch gefallenen Pulverschnee, babyblauer Himmel und Sonnenschein - bei so einem Wetterchen wäre früher der Kaiser auf Besuch gekommen, die Menschen hätten ihre Mäntel und Hüte in die Luft geworfen und Hurra gerufen, er lebe hoch! - stattdessen brummt mein Schädel und ich hab einen Termin beim Doc.
Ich eile durch den vereisten Park, um den Bus zu erwischen. Fast lege ich mich aufs Maul, kann mich so gerade noch fangen, und als ich die Hauptstrasse erreiche, biegt die Linie 3 schon in die Haltebucht ein. Ich schlittere bei Rot über den Fußgängerüberweg, im Zickzack zwischen wütend hupenden Autos hindurch, mich andererseits mit Handzeichen bei Autofahrern bedankend, die vom Gas gehen - so schaff ich es gerade noch zum Bus, auch wenn der Fahrer mir zu gern die Tür vor der Nase zugeschlagen hätte und in Zeitlupe davongezuckelt wäre, um im Rückspiegel mein miesepeteriges zurückgelassenes Gesicht in allen Einzelheiten mitnehmen zu können.
Tja, war wohl nichts, Chef.
"Was soll ich denn jetzt mit Ihnen machen?" stöhnt er, als die Tür hinter mir schliesst, mit diesem Ziehharmonikageräusch. Ich bin ziemlich aus der Puste und verstehe nicht richtig. Hm?
"Was soll ich denn jetzt mit Ihnen machen?"
Erst glaube ich noch, er erlaube sich ein Späßchen, ha ha, der alte Spaßvogel - andererseits, worum geht's hier überhaupt? Wie, was soll er jetzt mit mir machen? Er soll mir einen Fahrausweis verkaufen. Das reicht schon, mehr brauch ich im Moment nicht. Aber irgendwie scheint der Kerl eingeschnappter zu sein, als ich dachte. Denn als ich meine Brieftasche aus der Jacke ziehe und zahlen will, macht er null Anstalten, ein Ticket vom Block zu ziehen oder wenigstens langsam anzufahren. Er ignoriert mich und glotzt leblos auf die Strasse, die vor ihm liegt.
"Was soll ich denn jetzt mit Ihnen machen?" wiederholt er ungerührt und im Ton keinen Deut anders als beim ersten Mal. Als wären wir beim Verkehrstraining im Verkehrskindergarten und er wäre der Polizist und ich der 6jährige Verkehrsteilnehmer, der gegen eine Vorschrift verstossen hat und nun gerüffelt werden muss.
Sein stoischer Ton geht mir allmählich auf den Sack. Natürlich ist meine Rote-Ampel-Aktion die Ursache seiner schlechten Laune. Dass ich verbotswidrig die Strasse überquert habe, um den Bus zu kriegen. Seinen Bus. Das passt ihm nicht. Das moniert er. Das mahnt er an. Ausserdem war er nicht flink genug, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen, das fuchst ihn ganz besonders. Ich gucke in eine dämliche, etwas dickliche Fresse, zu der einem nichts einfällt. Ausser, dass ich es eilig habe und er langsam mal in die Pötte kommen könnte.
"Woher soll ich wissen, was Sie mit mir machen sollen! Vielleicht die Polizei rufen, weil ich bei Rot über die Strasse gegangen bin. Was wollen Sie überhaupt von mir?"
Er blickt mich immer noch nicht an. "Sie sind doch gerade bei Rot über die Strasse gegangen", beginnt er.
"Richtig. Und?! Was haben Sie damit zu tun? Was geht Sie das an?"
Endlich schaut er auf. Irritiert. Er ist es gewohnt, 6jährige Buben abzukanzeln, die seinen Bus betreten und zuvor Verkehrszeichen missachtet haben, solche Dinge hat er in seiner Laufbahn schon viele Male regeln müssen, die Kinder bekamen einen Satz rote Ohren und schämten sich vor ihren Kameraden. Und nun stehe ich vor ihm am Führerstand, es ist halb neun morgens, ich bin spät dran und hab elchrote Ohren und so schlechte Laune, mein Humor ist flach wie Harry-Brot.
"Sie haben eben bei Rot die Strasse überquert", beharrt er. "Was soll ich denn mit Ihnen machen? Soll ich die Polizei holen?"
Der meint das ernst. Der hat sie nicht mehr alle. Es ist still geworden im Bus, alle Gespräche beendet.
"Die Polizei, ja.. das tun Sie mal", sage ich und werde laut, "wenn Sie sich unbedingt lächerlich machen wollen. Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Sie Obmann! Sie Blockwart! Was besonderes?"
"Ja", antwortet er, zu meiner Überraschung. Auch wenn er äusserlich ruhig wirkt, man kann förmlich zusehen, wie in seinem Innersten gerade ein Riesenflöz Testosteron abgebaut wird.
"SIE glauben, SIE sind was besonderes?!" ruf ich und knalle ihm 2 Euro und 20 Cent auf den Münzteller. "Einmal in die Stadt, besonderer Busfahrer!"
Er wirft einen Blick auf die Münzen.
"Macht zwo dreissig, das Einzelticket."
Ach so, ja. Fahrpreiserhöhung. Ich zieh wieder die Brieftasche aus der Jacke, fische umständlich Kleingeld heraus. Ein Zehn-Cent-Stück.
"Dann jetzt einmal in die Stadt!"
Der Fahrer knipst den Fahrschein vom Block und hält ihn mir angewidert hin.
"Sie sind bei Rot über die Ampel gegangen", sagt er tatsächlich ein weiteres Mal, aber erstmals erschüttert ein Flackern, ein winziges Zittern seine Stimme. Ein Mann, der nie die Gewalt über sich verliert. Ein Mann, der während des spätabendlichen Schneesturms ein 11jähriges Mädel nicht zusteigen lässt, weil ihm zwanzig Cent fehlen für eine einfache Fahrt. Ein Mann, der sofort und unmissverständlich nach der Obrigkeit pfeift, wenn ihm ein Verkehrsrowdy schief kommt. Ein Mann, mit dem die Nationalsozialisten schon einmal Staat gemacht haben. Ein Mann, der Linienbus in Solingen fährt. Da rechne ich ihm ja schon fast an, dass er sich für was besonderes hält.
Ich zwinkere ihm höhnisch zu, greife das Ticket und suche mir einen Platz in der Busmitte. Ein paar Schuljungs kichern guttural ins Smartphone, als ich durch den Gang laufe.
Isch schwöre, Alter - voll die Asis!