Die Deutung der Welt

Der Schnee des gestrigen Tages fiel, stolperte und begrub die Stadt unter sich, seinem Mantel, beschwerte alles und jeden mit seinem leicht anmutenden Schwergewicht. Wie ein Betrunkener, ein Glühweinfanatiker, lallte er auf die Autofahrer und Fußgänger – die er mit kommunistischer Gleichheit segnete – ein, die seinen Ausführungen nicht folgen wollten und konnten. Jeder Satz barg die Gefahr eines Sturzes. Man glitt auf seinen eiskalten Vorwürfen aus.

Autos krochen wie verletzte Käfer Richtung Haus und Hof.

Einige wenige Unbeirrte genossen das Schauspiel, so der Weintrinker, der vor dem Kino stand und jeder Flocke seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Keine sollte unbeachtet bleiben. Er trank sich die Welt schön, bis ihm die Schönheit aus Ohren und Hals kam. (Dieser dort war übrigens – dies nur nebenbei, aber es sollte nicht unerwähnt bleiben – ein Wortdieb, ein Schwamm, so nennen wir solche hier in der Stadt. Schwämme saugen Geschichten und lassen sie sich bei nächster Gelegenheit aus den stets feuchten Lippen pressen. Sie erzählen alles, was sie andernorts erlauscht haben so, als wäre es ihnen passiert. Schwämme leben die Leben, die sie sich erhörten. Unerhört, so schimpfen manche.)

Gegen Abend vereinsamten die Straßen, wurden zu Ausgestoßenen. Die Stadt überließ sich den Lichtern, die sie stoisch illuminierten.

Jetzt schneit es nicht mehr. Der Himmel ist wolkenlos, man kann direkt in die Unendlichkeit des Weltalls starren, so weit, dass man Angst bekommt.

Der Schnee gibt ein scharfes Bild ab. Keine Störsignale mehr, die vom Himmel rieseln.

Wind ist nicht zu spüren, dafür eine Kälte, die unbarmherzig zugreift. Eine Zeichnung, die eine Kinderhand in den Schnee malte, wirkt wie für alle Zeiten festgehalten. Die Kälte ist ein Konservierungskünstler, der vor seinem eigenen Talent erstarrt.

Die Geräusche versickern nicht länger. Sie tönen hell und klar, finden genügend Platz, um sich zu verwirklichen.

Die Welt spricht wieder deutlicher. Fast meint man, sie verstehen zu können.

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