Tiefer Schneefall

Schnee ist während unserer Abwesenheit gefallen. Wir haben sein Ankommen verpasst. Jetzt liegt er überall. Auf den Dächern. Den Motorhauben. Auf den Scheiben. Den Straßen. Unbekümmert, als gäbe es nichts zu tun, wartet er auf die Kälte. Ein Tourist, der sich in den Schatten erholen will. Auf Frost hofft er, um die Saison einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Wärme wäre sein Tod, auch wenn er nichts davon weiß. Nichts will er, außer dort bleiben, wo er ist. Eine Armee ohne Sinn und Verstand, die nicht gekommen ist, um Autos rutschen zu lassen. Das geschieht, weil die Eissoldaten aalglatte Wesen werden können, wenn man sie zerstört, wenn sie von der Sonne angeknabbert und dann vom Frost wieder zusammengestückelt werden. Sie sind wandelbar, nicht festgelegt. Es gibt Stimmen, die dem Schnee eine gewisse Charakterlosigkeit unterstellen. Ein falscher Gedanke, der so erst gar nicht ausgesprochen werden sollte.

Die Laute sind dem Schnee Nahrung. Er schluckt sie. Tief in seinem Eisfachmagen hortet er sie. Frisch bleiben sie, behalten ihren Geschmack, bis er geht und die Geräusche wieder frei gibt.

Die ersten Kinder werden sein Antlitz zerstören. Sie werden ihn zusammentragen, schichten, um sein Wesen dem unseren anzupassen. Nicht länger soll er ein Fremder bleiben. Soll einer von ihnen werden. Irgendwie. Integrationsunternehmen “Schneemann” rollt an.

Schaufeln werden ihn zur Seite räumen. Schuhe werden ihn beschmutzen, obwohl er ein Teppich auf Zeit ist. Im Himmel ist er geknüpft und über Nacht über die Straßen und Gehwege gebreitet worden.

Die meisten Menschen schimpfen über seine Ankunft. Ein Eindringling sei er. Habe kein Asyl beantragt. So einen wie ihn, den könne man hier nicht gebrauchen. Und arbeiten wolle er auch nicht. Gefährlich sei er. Auf Gewalt sei er aus. Da müsse man sich nur die Nachrichtensendungen ansehen, dann wisse man rasch, was für einer er sei. Ein von Natur aus gefährliches Unwesen.

Der Schnee hört es sich geduldig an. Ihm fallen keine Erwiderungen ein, weil er in einer anderen Sprache spricht. Und da er weiß, dass seine Worte verloren wären, behält er sie für sich.

Er liegt und wartet geduldig auf das, was kommen wird.

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