Über meine Missgeburten

Lese ich in meinen eigenen Texten, blicke ich ihnen ins Gesicht, später, nach einem Tag, einer Woche, dann wundere ich mich manchmal. Komm mal her, sage ich zu dem einen oder anderen von ihnen, betaste seine Stirn, die aufgebläht wirkt, die Augen, die zu klein, nichts sehen können, die nahezu in seinem unförmigen Kopf verschwinden, die von ihm verschluckt werden, als würde er sich ihrer schämen.

Hässliche Textkinder tummeln sich zuhauf in meinem Haus. Sie sabbern und können nicht richtig sprechen. Ihre Gliedmaßen sind gebrochen, wirken verrenkt. Meine Natur hat es nicht gut mit ihnen gemeint. Sie sind die Früchte eines schnellen Schreibficks. Nach einer Schwangerschaftszeit von etwas zwanzig Minuten wurden sie von meinen Fingern in die Tastatur gepresst. Ein rasches Überlesen, dann wird die Nabelschnur zerschnitten. Die Copyandpasteamme trägt sie ins Säuglingszimmer meines Notizbuches. Dort wachsen sie auf, unbeachtet von mir, der ich längst andere Kinder zeuge. Kind auf Kind entsteht so, also auch die hässlichen Bälger. Hin und wieder verirrt sich eines von ihnen in meinem Blick, irrt umher, erkennt mich, will mich ansprechen, der es mustert, von oben bis unten, sich wundernd, wie mir derlei Geschöpf aus dem Füller laufen konnte.

Aber keines von ihnen wird abgetrieben oder später ersäuft, niemals. Sie sind auf der Welt und dürfen leben, auch wenn sie alleine durchkommen müssen, wenn sie sich durchschlagen müssen, irgendwie.

Und umso öfter ich sie betrachte, meine missgestalteten Texte, desto mehr Freude bereiten sie mir. Eben weil sie nicht geraten sind, wohnt ihnen ein ganz besonderes Geheimnis inne. Etwas, das man nicht verstehen kann. Nicht restlos deuten. Ihre Augen sind schwarze Seen, die weder Tiefe noch Leben erahnen lassen, sonder nur eine Dunkelheit, die kein Licht einlässt. Alles und jeden sperren sie aus, meine behinderten Textkinder, die kaum stehen können, geschweige denn einen graden Satz zuwege bringen. Sie wohnen in sich, bleiben tief in ihrem Selbst. Dort harren sie der Welt, die sie nicht verstehen. Kein Gespräch entsteht. Der Leser bleibt außen vor. Ein Zaungast, der in einen Zoo blickt, der mit Freaks bald überlaufen wird.

Ich werde mich nicht um all meine Missgeburten kümmern können, aber ich werde keines von ihnen, tippt es mich zaghaft an, zupft es mich am Ärmel, von mir stoßen. Ich werde es in den Arm nehmen und wiegen, werde ihm ein Schlaflied summen. Und dann werde ich an ihm riechen, werde ich es fühlen; abtasten werde ich es, werde wissen, dass es eines meiner zahlreichen Textkinder ist.

Es gehört zu mir, weil ich es zeugte. Es ist einzigartig. Das sollte es nie vergessen.

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