Modell Hamburg stand nie woanders als mitten auf dem Küchentisch, auf einer quietschgelben, mit rotem Edding eingesauten Lackdecke, zwischen verkrusteten Kaffeetassen, Notizzetteln und Dauergebäck.
Jeder, der zu Besuch kam, bestaunte diesen seltenen Riesenapparillo, dessen Tasten sich bequem mit Boxhandschuhen bedienen liessen und den wir nur aus einem einzigen Grund ausgesucht hatten: Wer ein solch hässlicher Aussenseiter war, so eine humpelnde Riesentöle, dass er im Telefonladen im untersten Regal versteckt wurde, der hatte es wahrlich verdient, aus den Klauen der Telekom befreit zu werden.
Modell Hamburg war ein beigefarbenes Tastentelefon für Sehbehinderte und sogar für die mittleren 80er Jahre reichlich anspruchslos. Es gab keine Lautsprecherfunktion zum Mithören, keine integrierte Mailbox, keine Vorwahlfunktion, nichts, gar nichts – mit Modell Hamburg konnte man lediglich anrufen und angerufen werden, fertig, aus. Das Innenleben dieses großen Sonderlings musste aus massiv Luft bestehen.
“Vielleicht liegt das Geheimnis des Universums in diesem Gehäuse verborgen”, meinte ich zu Karlos. Platz genug war vorhanden, und der Klingelton erinnerte fatal an den Urknall.
Dass das Geheimnis des Universums in unserem Telefonapparat Obdach gefunden hatte und von Schrauben zusammengehalten wurde, diese Vorstellung tat es besonders Karlos jüngerem Bruder an. Einem Kirchenorganisten, der uns gelegentlich auf dem Flügel Kompositionen von Debussy vorspielte. Ich konnte nie viel damit anfangen. Debussy klang für mich wie ein wirrer Raubzug unter Wasser, und ich war jedes Mal heilfroh, wenn ich es überstanden hatte.
“Spiel doch mal Heimweh nach St. Pauli“, ärgerte ich ihn. Da gab es doch diese schöne Textzeile Keine Frau ist so schön wie die Freiheit.
(Langsames Walzertempo).
*
Modell Hamburg hatte Sturm geläutet. Jemand von der Friedhofsverwaltung war dran und meinte, Karlos solle sich sofort auf die Socken machen. Ein Träger für die 11 Uhr 15-Beerdigung war ausgefallen. Die Stimme des Friedhofverwalters verriet Panik.
“Gottseidank sind Sie daheim.”
“Dabei wollte ich mir genau den Termin schenken”, krächzte Karlos verärgert. “Für den Fettsack bräuchte man zehn Mann.”
Er schnürte sich die schwarzen Treter zu und setzte einen Jello in die Spüle. Wir waren beide erkältet. Als ich am Morgen wach geworden war, blickte ich auf einen Hügel vollgerotzter Taschentücher, den ich über Nacht neben dem Bett hochgezogen hatte. Als ich mir ein von der Ofenluft getrocknetes, schon mehrfach gebrauchtes Tempo griff und reinschneuzte, quoll der Schnodder zu den Seiten heraus und lief mir über die Finger.
Äh.. super.
Der Ausflug nach Düsseldorf tags zuvor hatte mir den Rest gegeben, als ich viel zu dünn angezogen durch Bilk geirrt war.
“Was machstn heut Abend?” fragte ich Karlos.
“Ich geh zu meinen Eltern. Wieso? Du nicht?”
“Doch, schon. Danach, mein ich.”
“Danach.. Am Schaberg soll ne Heiligabendfete sein.”
“Am Schaberg?”
“Ja, von diesem Heinz, der mit der Ex vom Monschi zusammen ist.”
Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, wer Heinz geschweigedenn die Ex von Monschi war, aber immerhin, es tat sich eine Perspektive auf.
“Wir sehen uns”, knurrte Karlos und zog los Richtung Friedhof, eine korpulente Leiche unter die Erde bringen. “Das wird ne Mordsarbeit. Die Sau wiegt fünf Zentner. Da bräuchten wir zehn Mann. Hoffentlich halten die Seile.”
Bis in den Nachmittag blieb ich im Bett. Zog einen weiteren Hügel Tempos hoch und las lustlos im Kuss der Spinnenfrau. Ich hätte lieber was witziges gelesen, aber in der ganzen Bude war nichts aufzutreiben, worüber ich nicht schon gelacht hätte. Oder geweint. Oder erst gelacht, dann geweint, und zum Schluss..?
Ich weiss auch nicht.
Ich lag auf dem Bett und stierte zur Decke. Dachte ans Jahr zuvor, Heiligabend 1985, als mit Lena mal wieder Schluss gewesen war. Weil ich nicht allein bleiben wollte, ging ich zur Bescherung rüber zu meiner Schwester. Mein Schwager, mein Bruder und ich machten im Laufe des Abends ein Fass Bier leer, und nach Mitternacht tauchten Karlos und sein Bruder auf, um mich abzuholen. Irgendwo war Party, aber vorher wollten wir auf einen Sprung zu mir rüber, eine Tüte rauchen.
Ich war so betrunken und frustriert und voller Hass auf Lena, dass ich, kaum, dass wir meine Wohnung betreten hatten, schon die Faust in der Milchglasscheibe der Badezimmertür hatte und sie mit bloßer Hand einwichste, was überraschend problemlos gelang. Piff paff.
Auf dem Weg zur Heiligabendparty am Frankfurter Damm saute ich das Auto von Karlos Bruder ein. Den Rücksitz. Vom Opel.
“Glumm, du Sau, pass auf, wo du hinblutest! Das krieg ich doch nie mehr raus aus dem Polster!”
Auf der Fete angekommen, stürmte ich gleich hoch ins Bad, weiterbluten. Ich seh mich noch auf dem Wannenrand hocken, vor mir mein alter Kumpel Schnaat, der schon länger da war und mir ein ums andere Mal die Hand verbindet, weil ich mir das Mullzeugs immer wieder abreisse, wie ein störrischer alter Knecht, dem zwar bewusst ist, dass er Schwachsinn fabriziert, aber irgendwie keinen anderen Ausweg sieht. Schliesslich führt Schnaat mich aus dem Badezimmer, wie eine Trophäe.
“Aus dem Weg! Das klirrende Christkind kommt!”
*
Ein Jahr später. Da meine Schwester samt Familie in Wintersport gefahren sind, soll die Bescherung im kleinsten Kreis stattfinden: bei meinen Eltern, mit meinem Bruder und mir. Gegen halb fünf Uhr geht das Telefon, wo ich denn bliebe.
“Ich geh jetzt los, ja”, krächze ich und schleppe mich über Wupper- und Bleichstrasse den steilen Klauberg hoch, zur Schillerstrasse.
“Ha! Ein Igel!” ruft Vater bei meinem Anblick, auch Mutter ist baff. “Die schönen Locken. Was hast du denn gemacht?”
Dass ich tags zuvor in Düsseldorf beim Frisör gewesen war, hatte ich schon vergessen. Mein Bruder begnügt sich mit einem Lachanfall. Es gibt Kaffee und selbstgemachten Christstollen, eine Spezialität meiner Mutter.
“Den hab ich mit Haferflocken gebacken”, erklärt sie eifrig. “Weil Papa sonst Bauchschmerzen kriegt, wenn ich Butter nehme.”
Wohltemperiert, im Hintergrund, läuft Weihnachtsmusik. Stille Nacht, heilige Nacht. Ein zartes Lied, wie flirrendes Lametta. Nicht so Debussy. So Raubzug unter Wasser.
“Scheiss Wetter draussen, ne?” meint Vater. Das Wetter ist mehr und mehr sein Lebensthema geworden. Er zieht sich eine Wetterkarte nach der anderen rein. Es ist ihm unbegreiflich, dass meine Schwester, mein Schwager und ihr kleiner Sohn in einer Tour in die Schweiz durchfahren wollen, ohne irgendwo eine Übernachtung einzulegen. “Ist doch viel zu gefährlich bei dem Wetter.” Und wenn ich spät am Abend nach Hause gehe, dann nur mit einer Pudelmütze, wegen meiner Erkältung. Manchmal könnte ich platzen bei all seiner Übervorsicht, die bei uns Kindern schwere Spuren und gewaltige Schäden hinterlassen hat, doch an diesem Tag legt mich die Grippe lahm und ich konzentriere mich darauf, einen weiteren Hügel Tempotaschentücher hochzuziehen, diesmal auf der Marmorplatte über dem Heizkörper, gleich neben dem goldenen Rauscheengel, der sich pausenlos im Kreise dreht, angetrieben von der Heizungsluft.
Vater erzählt von früher, das kann er gut. Da ist er in seinem Element. Eine kleine Geschichte spielt im Krieg, um 1935 herum, als mein Grossvater eine ganze Etage des Hauses an der Hasselstrasse untervermietet hatte, um Geld in die Kasse zu kriegen.
Eine Familie, die zur Untermiete wohnte, hatte einen Sohn, Wolfhardt, den mein Opa nur Wolfram, den Lattenscheisser nannte. Wolfhardt war ein Mißgeschick unterlaufen. Er hatte bösen Durchfall, und weil er nicht in die Hose machen wollte und das Klo zu weit weg war, rannte er aus der Küche zur Haustüre hinaus, mit Panik in der Stimme ,”WEG DA!”, zwischen den anderen Kindern hindurch, die auf dem Dürpel spielten. Noch im Laufen zog er die Lederbuxe runter, hockte sich hin und schiss genau zwischen dem Lattenzaun hindurch, der das Grundstück vom Bürgersteig abgrenzte.
“Wie aus einem ausser Rand und Band geratenen Gartenschlauch, der Kinderkacke geladen hatte, so spritzte das aufs Trottoir.”
Vorm Abendessen wechseln wir ins Wohnzimmer, wo die von Vater aufgebaute die Stadt darauf wartet, gewürdigt zu werden. Die Stadt ist eigentlich ein Dorf, doch niemand wäre auf die Idee gekommen, die Stadt ein Dorf zu nennen. Mein Vater baut sie jeden Weihnachten auf, es ist seine ureigene Verneigung vor der Glummschen Tradition, eine Krippe herzurichten. Auf einer großen ausgedienten Modelleisenbahnplatte stehen einige Dutzend selbstgebastelter kleiner Häuschen, teils aus Papier, teils aus Kunststoff und im bergischen Fachwerkstil gehalten. Es gibt hohe Kirchen und eine Parkanlage, Gaslaternen in den Strassen, eine Burg auf dem Hügel.
In den Häusern, hinter bunten Fenstern aus Pergamentpapier, baumeln winzige Glühbirnen. Kunstschnee bedeckt fast die gesamte Modellstadt, nur im Hinterland gibt es saftige Wiesen aus Moos, das traditionell am Tag vor Heiligabend im Wald gesammelt wird, in einer heiligen Familien-Aktion. Die gesamte Kindheit über hiess es am Vormittag von Heiligabend: ab in den Wald, mit Schüppe und Eimer, zum Moos-Sammeln. Bis in den Januar hinein roch es in der gesamten Wohnung nach feuchter Muttererde und Wald, bis die Stadt wieder abgebaut wurde.
Das Merkwürdige: die Stadt lud zum Spielen ein, doch es war beinah unmöglich darin zu spielen, dazu war alles zu filigran gebastelt und wäre zu schnell kaputt gegangen. Uns Kindern blieb nichts anderes übrig, als staunend davor zu verweilen und die Phantasie spielen zu lassen. Ich stand immer am längsten vor der Platte und träumte.
Mein Onkel Fitting drehte in den 60er Jahren einen Trickfilm in der Stadt, in der Stop-Motion-Technik, wo Objekte für jedes einzelne Filmbild leicht verändert werden. Bei der Präsentation saß ich als Knirps mit grossen Augen vor der Leinwand und konnte kaum glauben, dass die Kutschen plötzlich losfuhren, wenn auch ruckelnd, und dass in der idyllisch gelegenen Waldschänke ZUM LANDSKNECHT Räuberhauptmänner ein und ausgingen, während die Bürgerschaft auf die Burg floh und feine Damen unter ihren Sonnenschirmchen empört durch den Schnee schnurrten.
Als am Ende des kurzen Films ein silbriges Raumschiff auf der Puderzucker-Chaussee landete und Kieselsteine aufflogen, ein typischer Onkel Fitting-Gag, hielt es mich nicht mehr auf dem Sitz.
“Das geht doch nicht!” rief ich überwältigt. “Das ist doch.. gar nicht möglich, Onkel Fitting!”
*
Mutter räumt die Reste der Kaffeetafel ab und erzählt, dass Conny dagewesen war und ein Geschenk für mich dagelassen hatte. Ein Plüschtier. Was rosanes.
“Das ist so ein liebes Mädchen”, schwärmt Mutter.
Conny war so etwas wie meine allererste Freundin, lange vor Britta und Lena, eine Ewigkeit her. Dennoch bleibt sie für meine Mutter der Inbegriff einer Schwiegertochter. Danach kamen, in ihren Augen, nur noch Schlampen, die ihre schmutzigen Höschen in meiner Bude verteilten. Ich erkläre Mutter zum hundertsten Mal, dass ich mit lieben Mädchen nichts anfangen könne, weil ich selbst lieb genug sei, in gewisser Weise.
“Versteh ich nicht”, meint Mutter, und hinterher versteht sie es dann doch. “Du brauchst schmutzige Höschen, nicht wahr?”
Später gibt es Schinkenröllchen mit Spargel, die selbst meinen Bruder aus seinem Bau locken, wo er sich mit seinem neuen Tele-Spiel Zehnkampf Olympiade verschanzt hat.
“Stabhochsprung bin ich bei sechs Metern.”
“Gratuliere”, sage ich. “Noch drei Zentimeter bis Bubka.”
Ich hab kaum Appetit. Selbst das Flaschenbier, das mein Vater extra besorgt hat für meinen Bruder und mich, läuft nicht.
“Wer ist Bubka?” fragt meine Mutter neugierig. “Auch so ein Popsänger?”
“Genau. Sergej and his Bubkas.“
Mein Bruder, 19, einen Kopf grösser als ich, trägt einen Vollbart und das Haar so lang, als würde der späte Jim Morrison mit uns am Tisch sitzen. Und die Schinkenröllchen kloppt er sich schneller rein als man im Puff hinterm Bahndamm bedient wird.
Eine Stunde später. Auf der Marmorplatte über der Heizung ist die nächste Skyline aus Taschentüchern hochgezogen. Ein Statiker hätte seine Freude daran, wie Dinge funktionieren, gegen jede Wahrscheinlichkeit. Ich bin so erledigt von der Erkältung, dass ich mich schon um halb Zehn verabschiede und nach Hause latsche.
Modell Hamburg lieg still im Mondlicht. Ich haue mich ins Bett und lese im Kuss der Spinnenfrau, als das Telefon doch noch läutet. Urknallt. Big Bang.
“Hier ist der dicke Hansen.” (Na schön, so dick ist der dicke Hansen gar nicht mehr, aber soll er sich deswegen gleich mit Hering melden?) “Kommst du gleich mit zur Party?”
“Nee, ich glaub nicht. Bin so schlapp. Erkältet.”
“Äh, der schlappe Glumm. Was ist mit Karlos?”
“Der ist nicht hier.”
“Wo isn der?”
“Keine Ahnung. Bei seinen Eltern. Ruf da mal an.”
Halbe Stunde später fahren der dicke Hansen und Karlos vor, um mich einzusammeln, und zu viert gehts zum Schaberg hoch, auf die übliche scheiss Heiligabend-Party.
Schlagwörter: debussy, Heiligabend 1985, Heiligabend 1986, Heiligabendparty, Heimweh nach St. Pauli, Kuss der Spinnenfrau, Modell Hamburg Tastentelefon für Sehbehinderte
21. Dezember 2012 um 12:36 nachmittags |
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21. Dezember 2012 um 1:14 nachmittags |
DA ISSES!!