Als ich auf den Alexanderplatz trete, tönt mir der Imperial March entgegen. Ein einsamer Trompeter spielt gegen die Kälte an, vergeblich. Ich suche Schutz in der Straßenbahn.
Weißensee empfängt mich mit „Super Burger“ Schnellimbiss, Gardinenläden und ausgebranntem Autowrack auf der Verkehrsinsel. Schnell ins Warme: Der Rote Salon, ein kleiner, holzgetäfelter Raum, ist so etwas wie die gute Stube der Brotfabrik. Hier mache ich es mir gemütlich, um die erste Lesung in der Reihe „Literatur in Weißensee“ zu verfolgen. Alexander Graeff und Mikael Vogel tischen eine großzügige Auswahl Lyrik und Prosa auf, von der man sich gerne berieseln lassen möchte – aber so einfach machen es die beiden einem nicht.
Mikael Vogels minutiöse Tiergedichte, die geschickt zwischen Pittoreske und Verstörung changieren, führen auf unsicheres Gelände: Mein Kater hat das Stockholmsyndrom. Alexander Graeff bietet Paroli mit dionysischen Betrachtungen, in denen er sich etwas versteigt, zur vollen Form läuft er erst mit einem Stück Kurzprosa auf, das, in verteilten Rollen gelesen, die Geschichte einer Dreiecksbeziehung mit Tierbeteiligung erzählt, in der die Idee von der menschlichen Projektion von Gefühlen zu Tieren etwas zu wörtlich genommen wird. Die Konter von Mikael Vogel spielt dagegen durch, was passiert, wenn die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen: Kafkas Verwandlung gegen den Strich gelesen entwickelt eine ganz neue Ebene des Grotesken; außerdem eine Anekdote aus dem Zoo von Tokio, in der Menschen bei einer Katastrophenübung in überdimensionierte Tierkostüme schlüpfen.
Ich stelle mir den Autor als Fledermaus vor, der den Roten Salon über das Fenster verlässt; nach der Lesung bin ich beruhigt, dass Alexander Graeff und Mikael Vogel doch ganz normale Menschen sind. Aber ist der Mensch nicht letztlich auch nur ein Tier?
Fledermäuse aus Ernst Haeckels Kunstformen der Natur
Auf dem Rückweg studiere ich die Speisekarte von „Super Burger“ an der Ostseestraße und muss unweigerlich an die Zeitungsmeldung denken, in der von Pferdefleisch-Resten in der Hamburger-Produktion berichtet wurde. Ein guter Zeitpunkt, um Vegetarier zu werden.
Literatur in Weißensee findet jeden 3. Sonntag im Monat statt. The Daily Frown berichtet als Medienpartner über die Lesungen.
Reblogged this on open mike – der blog und kommentierte:
Fabian Thomas – open mike Blogger der ersten Stunde – über Fledermäuse in Weißensee.