
Sommergefühle in Weißensee: Der Außenbereich ist gut besucht, die Kastanie am Caligariplatz steht in voller Blüte, der rote Salon eröffnet zu einer weiteren Lesung mit Alexander Graeff, der dieses Mal Sascha Reh und dessen Roman Gibraltar eingeladen hat.
Die Anmoderation kommt einer Warnung gleich: Drei „Bestien“ seien zu erwarten, die in Form der Komplexe Bank, Familie und Krise Themen des Abends sein werden. Nun gut. Zwei Familien, deren Wege sich kreuzen, und eine Bank, die untergeht, weil ein Banker mit dem Geld stiften gegangen ist, das klingt kompliziert, noch dazu bei einem Roman von über 450 Seiten. Ist es aber gar nicht. Sascha Reh erzählt so ruhig betont, fast bedächtig, und mit einem sanften Ruhrpott-Zungenschlag, dass sich der durchaus komplexe Handlungsbogen von Gibraltar Schicht um Schicht entblättert. Von der jüngsten Hauptfigur, Tochter Valerie, die Stimmen aus den Heizungsrohren hört, zum Stiefvater Bernhard, dem Prop-Trader, der dubiose Medikamente einwirft, immer tiefer in Abstumpfung und Gefühllosigkeit versinkt und sein Bestes tut, das schlimmste Ekel der jüngeren Literaturgeschichte seit Rainald Goetz‘ Johann Holtrop zu werden.
Im Wechsel dazu erforscht Alexander Graeff in der längeren Kurzgeschichte „Theodor Taut“ genauer die psychologischen Hintergrundmuster dessen, was man in den Bildungsromanen des 19. Jahrhunderts als das „Streben nach Erfolg“ bezeichnete. Taut, ein dandyhaft-beflissener „Mann von Welt“, in einem nicht genau bestimmbaren Setting auftretend, wo auch ein Felix Krull nicht überraschen würde, hat mit einem Makel zu kämpfen, der nicht so recht zu seiner gepflegten Erscheinung passen mag: ihn plagt ein Klumpfuß. Graeff lässt diese deutlich mephistophelisch angelegte Figur nun quer durch Europa reisen, von Sizilien nach London, wo er immer dubioseren und obskureren Geschäften nachgeht. Taut entpuppt sich schließlich als eine tragische Gestalt, dessen Unternehmungen zum Selbstzweck geraten: Der traurige Geschäftsmann.
Dieser hat auch bei Sascha Reh das letzte Wort, der den Abend mit einem Auszug aus dem Epilog von Gibraltar beschließt: Johann, Patriarch der Privatbank Alberts & Co., liegt auf dem Sterbebett und denkt noch einmal über sein Leben nach, das er, ganz alte Schule, stets nach den Prinzipien Ehre, Leistung und Loyalität geführt zu haben glaubt. Diese liegen nun – soviel kann man an dieser Stelle schon erahnen – in Scherben, und Johann hadert. Ebenso wie der Begriff der Krise ist in Gibraltar nämlich auch der Begriff der Schuld mehr als doppeldeutig: Die Schulden, die der Prop-Trader Bernhard aufgehäuft hat, sind nur das äußere Merkmal einer tiefgreifenden Verstrickung aller Mitglieder dieser schrecklich netten Familie in persönliche Verfehlungen, Vertrauensbrüche und Enttäuschungen, die auch das Familienoberhaupt mit einschließen und ihm ein sanftes Entschlafen verwehren.
Alle Schulden am Ausschank der Brotfabrik sind glücklicherweise bezahlt, als ich den Rückweg von dieser Ausgabe von „Literatur in Weißensee“ antrete. Aber eine Nachdenklichkeit bleibt: Bei meinem nächsten Besuch am Geldautomaten werde ich an Gibraltar denken.
Literatur in Weißensee findet jeden 3. Sonntag im Monat statt. The Daily Frown berichtet als Medienpartner über die Lesungen.