
Mythische Fragmente, Münchner Glyptothek (Quelle: Wikipedia)
Kann man Lyrik „verstehen“? Wie nähert man sich einem Gedicht als Zuhörer am besten? Diese Ausgabe von „Literatur in Weißensee“ endete überraschend in einer offenen Publikumsdiskussion – kein schlechtes Ergebnis für einen lauen Sonntagabend, bei dem dieses Mal der Schriftsteller, Komponist und Herausgeber Asmus Trautsch im Mittelpunkt stand.
Dessen stilistisch wie inhaltlich sehr unterschiedlichen Gedichte fasste Gastgeber Alexander Graeff unter dem Oberbegriff des Mythos zusammen, der im Verlauf der Veranstaltung mal mehr, mal weniger zum Vorschein kam. Denn ein weiteres Schlagwort, das man nach den ersten Leseabschnitten mit Asmus Trautsch in Verbindung zu bringen beginnt, ist das der Phantasie: fremd-märchenhafte Städte, in einem „fiktiven Brandenburg“ verortet, freie Adaptionen der Gebrüder Grimm und poetologische „Treibbojen“ blieben besonders im Gedächtnis.
sprechen schreiben verknüpfen
wenn das bewusstsein über mir
zusammenschlägt den krill der kultur
in den kiemen mit jedem wissen
fragiler treibe ich unter schollen
durch die angst ist kein wal nur
das eigene lebendgewichtnichts zieht an die oberfläche
verankert und hält wenn nicht
die sprache dieses treibbojensystem
ein netz der spezies (mit körpern an land
und seelen auf see) jedes wort
unschuldig und zugleich heillos
durch geschichten gespannt
Graeff griff dann auch den phantastischen Faden auf und präsentierte eine Geschichte über die Faszination am Zirkus, der dem Erzähler in der Erinnerung unheimlich zum Leben erwacht. Dann – wieder Trautsch – zu den Mythen: Ajas, ein griechischer Sagenheld, wird Buddha gegenübergestellt und bildet so mit ihm ein Paar, das Trautsch mit der Fotografie eines Paares in einem Bücherregal kontrastierte. Alexander Graeff führte ergänzend noch weiter in die Vergangenheit zurück, mit der Story eines Archäologen in der Sinnkrise, der sich im Nachdenken über ein unübersetzbares babylonisches Wort verliert.
Das klingt nach einem ziemlichen Spagat zwischen grenzenloseer Phantasie und bildungsbürgerlicher Tradition, womit sich vielleicht die kurz vor Schluss zaghaft einsetzende Publikumsdiskussion erklären lässt. Trautsch und Graeff kam der Dialog aber sehr gelegen; ein schönes Beispiel dafür, dass man vor vermeintlich anspruchsvoller Literatur keine falsche Scheu an den Tag legen muss. Außerdem kann man nach diesem Abend getrost sagen: Es müssen nicht immer die Sagen des klassischen Altertums sein – der Mythos ist jeweils da präsent, wo er weitererzählt wird.
Literatur in Weißensee findet jeden 3. Sonntag im Monat statt. The Daily Frown berichtet als Medienpartner über die Lesungen. Gedicht zitiert nach: Asmus Trautsch, Treibbojen, Berlin: Verlagshaus J. Frank, 2010, S. 13.