Die besten 10 im September 2017

(c) Deuticke Verlag

1. Paulus Hochgatterer (41 Punkte)

"Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war", Deuticke

"Sie sagen, ich heiße Nelli. Manchmal glaube ich es, manchmal nicht.", so die Ich-Erzählerin im neuen Buch des österreichischen Autors und Kinder- und Jugendpsychiaters Paulus Hochgatterer mit dem Titel „Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war“. Die 13jährige Nelli kommt im Kriegsjahr 1944 auf einen niederösterreichischen Bauernhof, ohne Erinnerung und ohne Geschichte. Aus ihrer Perspektive erzählt Hochgatterer von einer Begegnung mit einem russischen Kriegsgefangenen, der eine rätselhafte Leinwandrolle mit sich führt. Von der Bedeutung von Kunst im Dritten Reich, von den traumatischen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs, die Generationen prägen, und von der Unmöglichkeit einer objektiven Wahrheitssuche handelt die Erzählung, die ihren Blick, wie so oft bei Hochgatterer, auf die Kinder, die Randständigen und Grenzgänger lenkt.

(c) S. Fischer Verlag

2. Lize Spit (24 Punkte)

"Und es schmilzt", S. Fischer

In den Niederlanden wurde der Debütroman der jungen belgischen Autorin Lize Spit schnell zum Erfolg. Rezensenten verglichen sie mit internationalen Schriftstellergrößen wie Ian McEwan, das Buch verkaufte sich schon nach wenigen Wochen über 20 000 Mal, und Spit wurde zum Medienliebling. "Ich hoffe aber, dass das Buch besser ist als der Hype", so die Autorin über ihren 480-Seiten-Erstling, den sie in nur einem Jahr geschrieben hat. Im Fokus der Geschichte steht Eva, die in einem kleinen flämischen Dorf aufwächst, und mit zwei gleichaltrigen Buben ihre Tage verlebt. In die Pubertät gekommen, entwickeln sich die drei jedoch auseinander und Eva wird zur Zielscheibe grausamer Spiele. Als Erwachsene kehrt sie an den Ort ihrer Kindheit zurück, um mit ihrer Vergangenheit abzurechnen. Lize Spit versteht es, bewegend über Einsamkeit und Trostlosigkeit im dörflichen Umfeld zu erzählen, eine atmosphärische Dichte zu kreieren, und den Spannungsbogen bis zum Ende zu halten.

(c) Hanser

3. ex aequo: Colson Whitehead (21 Punkte) NEU

"Underground Railroad", Hanser

Colson Whiteheads Bestseller über Rassismus und Sklaverei im 19. Jahrhundert ist in den USA das Buch der Stunde: 32 Wochen stand es in den Bestsellerlisten der New York Times, wurde mit dem National Book Award und dem Pulitzer Preis 2017 ausgezeichnet und ist jetzt auch für den Booker Preis nominiert. Die "Underground Railroad" – das Codewort für jenes geheime Netzwerk von weißen Menschenfreunden, das Sklaven zur Flucht in die Nordstaaten verhalf – kennt in den USA jedes Schulkind. Colson Whitehead nimmt in seinem Roman das Bild von der Untergrundbahn jedoch wortwörtlich. Bei ihm gibt es tatsächlich versteckte Bahnhöfe und Dampflokomotiven, die ihre Menschenfracht in die Freiheit transportieren. Gekonnt verwebt Whitehead Fakten und Fiktion. Ihm sei die Wahrheit wichtiger als Tatsachen, so Whitehead. Er will eine andere Perspektive auf die Geschichte der Sklaverei eröffnen, die bislang vor allem von Weißen geschrieben wurde. Und dazu zählt für ihn, dass sein Roman nicht nur vom Rassismus der Vergangenheit handelt, sondern auch von dem der Gegenwart.

(c) Suhrkamp

3. ex aequo: Robert Menasse (21 Punkte) NEU

"Die Hauptstadt", Suhrkamp

Als scharfsinniger Romancier und streitbarer Essayist ist Robert Menasse bekannt. Mit seinem neuen Roman "Die Hauptstadt" ist er auf der Longlist des Deutschen Buchpreises vertreten. Darin beschreibt er, wie in Brüssel – einer Stadt, die aus EU-Institutionen besteht – "die Epoche der Scham zu Ende geht". Ausgerechnet ein Schwein, das durch die Brüsseler Innenstadt rennt, sorgt für allgemeine Verunsicherung und verbindet die Lebensläufe ganz unterschiedlicher Charaktere miteinander. Große Gefühle treffen auf kleinkarierte Bürokratie und Robert Menasse präsentiert sich abermals als grandioser Erzähler, der mit knappen Skizzierungen konturenscharfe Bilder entwirft.

(c) S. Fischer Verlag

3. ex aequo: Gerhard Roth (14 Punkte) NEU

"Die Irrfahrt des Michael Aldrian", S. Fischer

Die Frage, wozu der Mensch fähig ist, das beschäftigt Gerhard Roth seit jeher - so auch in seinem neuen Roman "Die Irrfahrten des Michael Aldrian". Schauplatz ist Venedig, eine Stadt, die für Roth seit vielen Jahren Rückzugsort, aber auch Inspiration ist. Michael Aldrian, der Held seines neuen Romans, reist in die Lagunenstadt, um seinen dort lebenden Bruder zu besuchen. Der aber scheint mitsamt seiner Frau spurlos verschwunden zu sein. Auf der Suche nach ihm gerät er zusehends in immer dubiosere Verstrickungen, wird mit Morddrohungen konfrontiert und ist sich nicht mehr sicher, ob er oder die Welt um in herum wahnsinnig geworden ist. "Man hat Venedig oft genug als eine Märchenstadt be¬zeichnet. Das stimmt nur insofern, als es nicht nur verklärende, sondern auch grausame Märchen gibt", so Gerhard Roth über den ersten Teil seiner Trilogie, der Venedig und dem Verbrechen verschrieben ist.

(c) Droschl

6. Laura Freudenthaler (13 Punkte) NEU

"Die Königin schweigt", Droschl

Es ist diese Sprache, dieser präzise Stil, der distanzierte Ton - die Laura Freudenthalers Texte unverkennbar machen. Schon mit ihrem Debüt "Der Schädel von Madeleine" bewies die Salzburgerin Laura Freudenthaler ein feines Gespür für Stimmungen und Emotionen. In ihrem neuen Roman "Die Königin schweigt" zeichnet die junge Autorin das differenzierte Bild einer alternden Frau, die anhand von Erinnerungen ihr Leben Revue passieren lässt. Feinsinnig verwebt Freudenthaler Vergangenheit und Gegenwart, gekonnt spielt der Text auf ganz unterschiedlichen sprachlichen Ebenen. Vieles wird nur angedeutet, manches bleibt offen. Statt auszuformulieren, setzt Freudenthaler auf Leerstellen - auf Bestandsaufnahmen eines Lebens.

(c) Deuticke Verlag

7. Irene Diwiak (11 Punkte) NEU

"Liebwies", Deuticke

"Im schlimmsten Fall habe ich ein Buch geschrieben, das nur meine Mama interessiert. Da gibt es Schlimmeres", so Irene Diwiak über ihren Debütroman Liebwies. Darin erzählt die 1991 geborene Schriftstellerin von einer unbegabten Sängerin, die aufgrund ihrer Schönheit hymnisch gefeiert wird - und von einer talentierten Komponistin, die unentdeckt bleibt. Auf was gründet sich Ruhm, wer ist dafür verantwortlich und wer profitiert davon? Pointiert und mit beißender Ironie schreibt Diwiak über falschen Glanz, die Gier nach Ruhm – und wahre Schönheit, die mit alldem nichts zu tun hat.

(c) Droschl

8. Elfriede Gerstl (10 Punkte)

"Das vorläufig Bleibende", Droschl

Zum 85. Geburtstag der 2009 verstorbenen Wiener Autorin Elfriede Gerstl erscheint nun der fünfte und letzte Band ihrer Werkausgabe. "Das vorläufig Bleibende" versammelt Prosaminiaturen, Gedichte, Interviews und Traumnotizen aus rund fünf Jahrzehnten, darunter viele bisher unveröffentlichte Texte. Die NS-Zeit hat Gerstl als Tochter jüdischer Eltern in Wohnungs-Verstecken überlebt, eine Erfahrung, die ihr Werk grundiert.
Mit "undogmatischer Skepsis" (Franz Schuh), Selbstironie und einer spitzen Feder hat sich die Dichterin, die zeitlebens als Außenseiterin des Literaturbetriebs galt, einen Namen gemacht. Bekannt war die "Meisterin der Untertreibung" und "Verkleinerungsspezialistin", wie Gerstl immer wieder genannt wurde, vor allem für ihre "Denkkrümel", poetische Aphorismen, ebenfalls in "Das vorläufig Bleibende" zu finden, die auch als sogenannte Textansichtskarten erhältlich sind.

(c) Suhrkamp

9. ex aequo: Doron Rabinovici (8 Punkte)

"Die Außerirdischen", Suhrkamp

Was viele befürchten und manche ersehnen, in Doron Rabinovicis neuem Roman scheint es wahr zu werden: "Die Außerirdischen" statten der Erde einen Besuch ab. Zunächst breitet sich Panik aus, das öffentliche Leben versinkt im Chaos, brave Bürger mutieren zu Barbaren. Doch bald stellt sich eine seltsame Euphorie ein: die Aliens würden mithilfe bisher völlig unbekannter Technologien den Planeten von Hunger und Krankheit zu erlösen, ewiger Friede und Wohlstand würden einkehren. Die Sache hat nur einen Haken: die Gäste aus dem All benötigten freiwillige Menschenopfer. Die allgemeine moralische Empörung ob dieser inhumanen Forderung weicht schon bald praktischen Überlegungen: eine weltumspannende Casting Show wird initiiert, deren Sieger als "Champs" gefeiert - und deren Verlierer als "Märtyrer" geopfert - werden.
Der israelisch-österreichische Schriftsteller benützt das Science Fiction-Genre, um die Möglichkeiten eines (gar nicht so) neuen Faschismus literarisch auszuloten.
Sol, der Ich-Erzähler, der vom Profiteur zum Opfer des totalitären Systems wird, zieht gegen Ende des Buches das zeitlose Fazit: "Dass so wenige gegen das Schlachten aufbegehrten, liegt nicht daran, dass nicht genug von den Ungerechtigkeiten zu hören war. Die Fakten hätten zu jedem Zeitpunkt ausreichen müssen. Es fehlte an Mut, an Solidarität und an Empathie."

(c) Wallstein

9. ex aequo: Anna Baar (8 Punkte) NEU

"Als ob sie träumend gingen", Wallstein

Anna Baar hat als Ghostwriterin lange nur im Namen anderer geschrieben. Vor zwei Jahren wurde die Kärntnerin mit kroatischen Wurzeln dann beim Bachmannpreis erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Ihr Debütroman "Die Farbe des Granatapfels" war ein weitreichender Erfolg. Jetzt ist ihr zweites Buch mit dem Titel "Als ob sie träumend gingen" erschienen. Schreiben ist für sie wie ein Traumzustand und wie die meisten Träume beruht auch ihr neuer Roman auf Bruchstücken der Realität, zum Teil Familienerinnerungen, die sie zu sprachlich kunstvoller Fiktion montiert. Im Krankenbett lässt ein Mann sein Leben Revue passieren. Ein Krieg, der ihn um sich selbst gebracht hat und eine verpasste Liebe holen ihn wieder ein. Dass die Staunenden weiser seien als die Wissenden, heißt es einmal im Roman und bereitwillig lässt man sich bei Anna Baar auf das Staunen ein.