Hypnose-Ära

also, über was wollen wir reden? es würde sich für mich anbieten, die anekdotenkiste zu öffnen, die ich ja mit der rubrik alter notizen ohnedies erneut geöffnet habe. ich nehme, so weit es mir möglich ist, die gesammelten plaudereien wieder auf, sie fehlen mir hier im blog, jetzt, wo wir nicht mehr so tun müssen, als wäre literatur etwas ernstes und erhabenes. nun, erhaben ist sie schon, wie magie eben erhaben ist – aber eines können sie mir glauben: ich verabscheue dieses zur schau stellen von staub, dieses lexikalische getue. klar, ich habe das auch drauf, aber ich habe eben noch viel mehr drauf. zum beispiel das leben. und die liebe, das kann ich ihnen sagen. sie beschäftigt mich seit je.
das groteske erlernen. wir wundern uns ja gar nicht darüber, wie das leben funktioniert. so und so ist das leben, davon sind wir überzeugt. wie sollten wir es auch besser wissen – das meiste, von dem, was wir denken, es ist die welt, bekamen wir erzählt und nur wenig davon erlebten wir selbst. dazu gehört die erfahrung aufgeschundener knie, schatten, die nichts mit jenem gegenstand zu tun haben, den wir bei tageslicht darin sahen; gerade die dinge aufessen zu müssen, die wir am allerwenigsten mochten und die so beunruhigende namen trugen wie ZUNGE oder GSCHLING (gewöhnliche innereien, die sich unter diesem widerwärtigen namen verbargen und somit viel hinterhältiger daherkamen wie SAURE LUNGE oder SAURE NIERE).
wenn ich mich heute daran erinnere, erinnere ich mich auch an das summen. alles hat ein geräusch, selbst die stille. heute ist es nicht mehr da, heute ist die stille wirklich still, aber damals gab es dieses summen, das über allem lag wie eine glocke – und ein druck, das heisst: die luft war fester, so als würden wir zusammengepresst und auf dem boden gehalten. kinder können davonschweben, müssen sie wissen und sollten sie sich ein stück ihres eigenen kindes bewahrt haben, dann wissen sie, wovon ich rede. sie können davonschweben wie ballons und auch wenn man es für träume hält – es ist kein traum. punkt.
heute weiss ich, was dieses geräusch, dieses summen bedeutet und woher es kommt: es markiert die schnittstelle zwischen der realität, wie wir sie kennen, und dem traum – besser gesagt: diese beiden welten reiben sich aneinander und verursachen soetwas wie elektrizität. das gleiche geräusch erklingt aus den transformatoren der stromumschlagplätze. spannung. sobald wir einschlafen, haben wir keine probleme damit. der schlaf ist eine tür, die wir alle sehr häufig verwenden – aber es gibt natürlich wesentlich mehr eingänge als die tür, auf der „schlaf“ steht. ich habe einige davon ausprobiert, damals, in einer fernen zeit, die ich heute die „hypnose-ära“ nenne.
es gibt ausserdem züge, die dorthin fahren, bilder und spiegel, durch die wir dorthin gelangen können. ich selbst kenne noch einen anderen zugang: es ist eine kuckucksuhr. das wird sie erstaunen, da bin ich ganz sicher und an ihrer stelle würde ich ebenfalls staunen. es handelt sich um jene uhr, die franz-anton, der uhrenträger aus schönwald nach strassburg schleppt, um sie dort adam zu übergeben. wenn sie diese geschichte nicht kennen – nun, sie ist hier im blog zu finden, wie überhaupt sehr viel geheimnisvolles, das sie vielleicht für fiktion halten werden.
diese kuckucksuhr spielt eine wichtige rolle in meinem zweiten roman und ich muss wohl kaum erwähnen, dass ich diese kuckucksuhr persönlich kenne. mein grossvater schleppte sie an, als er sich mit meiner grossmutter im einzigen urlaub befand, den sie beide jemals in ihrem leben hatten (sehen wir einmal davon ab, dass mein grossvater im zweitenweltkrieg mit schnellbooten in englische häfen fuhr, um dort schiffe zu versenken). meine grossmutter jedenfalls wurde in steinselb geboren und starb in selb, wo wiederum ich geboren wurde.
oh, ich sehe, ich verplaudere mich. nichts für ungut. haben sie einen schönen abend.

Veröffentlicht von

Michael Perkampus

Michael Perkampus war Moderator der Literatursendung Seitenwind für Radio Stadtfilter in Winterthur. Er ist Autor, Übersetzer und Herausgeber des Phantastikon.