Es ist was Merkwürdiges um das Leben. Wir schaun hinein und schaufeln es in die Erinnerung, so dass man am Jetzt verzweifelt, weil es nur den Moment des in-die-Erinnerung-schaufelns markiert, ihn ja nicht einmal markiert, sondern trügerisch wirklich „jetzt“ meint. Doch gegenwärtig ist nichts. Sobald es wirkt, ist es Erinnerung, ja, alles wirkt überhaupt erst aus der Erinnerung heraus. Die Wirklichkeit, so scheint es, ist nichts anderes als das, was wir erinnern, und diese Erinnerung hat einen eingebildeten Inhalt, so dass es nicht schwierig ist, die Einbildung als Wirklichkeit zu erkennen.
Einbildung ist immer das, was kein anderer sehen kann, die Wirklichkeit gehört nur mir. Was ist aber mit dem, was da um mich herum steht, die Häuser, Strassen, überhaupt: den Anderen? Wir sehen alle ein Haus, wo ein Haus ist. Erinnern wir uns alle an dieses Haus, bilden wir es uns ein? Nein, wir bilden uns das nicht ein, wir träumen nicht. Wir begegnen dann der Einbildung eines Architekten, der nicht umhin konnte, seine Einbildungskraft manifest werden zu lassen. Das gibt es auch. Das Manifeste. Aber das ist einfach, ein Türmchen aus Sand zu bauen ist einfach. Beim nächsten Wind wird es verweht. Das ist einfach. Es war einmal Einbildung und es war einmal Manifest. Und jetzt ist es das, was alles irgendwann ist: verschleuderte Energie. Die Brocken schwirren durch die Zeit und raffen sich auf, etwas anderes zu bilden. Aber da ist noch etwas. Da ist doch die Erinnerung, einmal der Teil eines Hauses gewesen zu sein, tief schlummert sie in den Kernen, ist ja nicht bewusst, Wissen ist ja nie bewusst. Wissen kann gar nicht so klein sein, dass es in ein Bewusstsein passt. Wissen ist kein Bewusstsein, Wissen ist kein Inhalt, Wissen ist Erinnerung an das, was erlebt wurde. Und das ist Energie. Dicke, warme, fette Energie. Käme da jetzt ein Bewusstsein an, müsste es, um die Erinnerung abrufen zu können, Bilder daraus formen, um das Erinnerte zu begreifen, und sagen zu können: So war es, so wahr ich hier stehe. Das heisst: So war es ja gar nicht, denn dass ich hier stehen, ist nur wahr, wenn ich mich daran erinnere, dort gestanden zu haben. Es ist meine Wahrheit. Man könnte also auch ausrufen: Ich schwöre bei meiner Einbildungskraft. Ich intendiere, jemals hier gestanden zu haben, aber wissen werde ich es nie so genau. Klar, das ist ein Schwur, der überhaupt nichts zählt, aber was sollen wir tun? Irgendetwas müssen wir ab und zu schwören, um andere glaubhaft zu machen, wir währen redlich, wirklich, echt – und wir wüssten, was da so läuft im Universum.
Glaube mir!
Also gut, ich bilde mir ein, dir zu glauben. Aber bilde dir ja nicht ein, ich würde mir dazu auch noch einbilden, was du dir schon längste eingebildet hast. Ich bilde mir ja selbst etwas ein. Auf alles bilde ich mir etwas ein. Vor allem aber bilde ich mir etwas auf meine Erinnerung ein. Du wirst schon sehen, an was ich mich alles erinnere! Ich fange an zu reden, ich fange jetzt an, aus der Erinnerung zu reden. An dich erinnere ich mich ja schon gar nicht mehr. Ich weiss noch nicht einmal, was du getrunken hast. hier stehen doch zwei Gläser… siehst du die? Gut. Eines gehört dir, erinnerst du dich? Also, wenn du dich daran erinnerst, wirst du mir wohl sagen können, was du getrunken hast…. Tonic? Bist du dir sicher?
So wahr ich hier sitze? Hm.
Monat: März 2008
Ewige Tiere
Gefangene der Wassertropfen, wir sind nur ewige Tiere. Wir laufen durch die lautlosen Städte und die Zauberplakate berühren uns nicht mehr.
-André Breton/Philippe Soupault – Die magnetischen Felder (in der Übersetzung von Ré Soupault, 1990)
Original:
Prisonniers des gouttes d’eau, nous ne sommes que des animaux perpétuels. Nous courons dans les villes sans bruits et les affiches enchantées ne touchent plus.
– Les Champs Magnetiques, 1919