Eine neue Dichtung ist zugleich eine abramelinische Dichtung; sie funktioniert wie ein Zauberspruch. Sie umgeht unsere Sinne, zeigt kein Bild, sondern ist ganz auf die endokrine Gefühlswelt eingestellt.
Für den Dichter (wie auch für jeden Träumer und Tiefenpsychologen) ist der Erlebnisinhalt das Wesentliche, für die Biochemiker hingegen das Messbare. Der Widerstreit unserer beiden Denksysteme, die miteinander korrespondieren, rührt daher, weil sich unser bewusstes Denken in einem Kontinuum, in dem Nacheinander einer Einbahnstraße abspielt. Es ist dem Bewusstsein nicht möglich, mehrere Dinge gleichzeitig zu erfassen, weil gerade das bewusste Denken dank seines Konzentrationsvermögens alle Vorgänge, Wahrnehmungen oder Gedankengänge wie mit dem Punktlicht einer Taschenlampe kontinuierlich, eines nach dem anderen, verfolgt. Unser Unterbewusstsein hingegen, denkt komplex, erfasst vieles und hat darüberhinaus ein erstaunliches Speichervermögen von Dingen, Vokabeln und Ereignissen, welche dem Bewusstsein längst entglitten sind. Dieses phänomenale unterbewusste Gedächtnis offenbart sich bekanntlich unter Hypnose, die eine Möglichkeit des künstlichen Schlafes darstellt. Im Schlaf selbst geschieht nichts anderes, als dass das Bewusstsein schläft. Beim Erwachen geschieht nun das, was man den Zeitirrtum beim Träumen nennen kann, denn just in diesem Augenblick muss das subkortikale Zustandsangebot in ein bewusstes Erleben übersetzt werden. Nichts anderes tut die Erinnerung an den Traum, als zu übersetzen, was da in der gerade noch im Schlaf dominanten endokrinen Gefühlswelt geschah.
Ein Beispiel, das, wie ich glaube, auch die im Schlaf abgeschwächten Anregungen unserer Sinnesorgane, die an den Thalamus geleitet werden, einbezieht, die dann zur Traumübersetzung führt.
Nehmen wir also ein Traumerlebnis, das in veränderter Form sehr häufig vorkommt. Wir sind jung und haben eine Freundin oder einen Freund. Davon dürfen die Eltern nichts wissen. Aus diesem Grunde treffen wir uns heimlich. Die damit verbundene Gefahr könnte sich im Traum etwa wie folgt ausdrücken: Wir laufen auf den Schienen einer Eisenbahn entlang, in Richtung unserer Verabredung. Ein Zug verfolgt uns, kommt näher, aber wir sind nicht fähig, die Gleise zu verlassen, wir beginnen zu laufen – der Zug kommt aber immer noch näher. Kurz bevor er uns unweigerlich überrollen würde, schauen wir zurück und begegnen dem wütenden Blick des Lokführers, des Schaffners von mir aus. Dieser symbolisiert den Vater, der betätigt ein Warnsignal und wir wachen auf, weil der Wecker klingelt oder auch das Telefon. Das Warnsignal im Traum und das Geräusch, das uns weckte, waren dabei identisch. Würden wir nun davon ausgehen, unseren Traum so hervorragend getimt zu haben, wären wir prokognitiv und das wiederum wäre ein seltenes parapsychisches Phänomen.
In Wirklichkeit jedoch geschah folgendes: der Wecker klingelte uns aus dem Schlaf und sorgte für einen abrupten Übergang vom Unterbewusstsein zum Bewusstsein. Sobald wir plötzlich aufwachen, müssen wir uns orientieren, das heisst, den subkortikalen Zustand des Thalamus in ein bewusstes Erlebnis übersetzen. In diesem Zustand dominiert das bereits erwähnte endokrine Gefühlsangebot, welches, wie man weiß, unser unverfälschtes Gefühlsleben offenbart. Es offenbart psychische Verdrängungen und Komplexe, die ihrerseits das Traumerleben beeinflussen. Andererseits liefert die Weckerklingel eine Initialzündung, um den Gefühlskomplex in ein begreifbares Erleben umzusetzen. Der Traum kann also nur in diesem unendlich kurzen Moment des Weckens und des Wachwerdens entstanden sein, was wir natürlich weder wissen noch einsehen können; denn unser Bewusstsein muss dieses Erleben, um es begreifbar zu machen, in ein Raum-Zeitkontinuum einspezialisieren. Da wir aber nicht wissen, woher wir die Zeit für dieses Erleben genommen haben, verlegen wir es in die Zeit des Schlafens zurück und glauben, es während des Schlafens erlebt zu haben. In Wirklichkeit braucht unser Geist keine Zeit, um komplexe Ereignisse, wie eben das Träumen, zu gestalten. Dieser Geist freilich, mit dem wir denken, erleben und Wissenschaft betreiben, ist im wissenschaftlichen Materialismus nicht existent. Das hindert aber niemanden daran, überall und ständig auf ihn zu stoßen – um ihn dann jeweils wieder zu verschweigen und an großen, bisweilen fatalen Irrtümern, festzuhalten.
Ich möchte in einigen kleinen Schriften in der nächsten Zeit demonstrieren, wo unser leider immer noch (für mich persönlich nie ernstzunehmender) wissenschaftlicher Materialismus hingeführt hat, welche bahnbrechenden Experimente nahezu immer noch totgeschwiegen werden und was das alles mit der Literatur, die ich bevorzuge, zu tun hat, denn Dichten ist wahrnehmen, und Literatur hat mehr mit dem Träumen zu tun als mit irgendetwas anderem.
* Literaturempfehlung:
Thewes, G., Physiologische Grundlagen der endokrinen Regulation
Hubel, David N., The Visual Cortex of the Brain, Scientific American