Achtundzwanzig, Zwei, Neun

In den letzten Tagen den Miszellaneen-Band überarbeitet. Seit heute morgen dann endlich an der Reinschrift zur Mitte der Unendlichkeit. Daraus das Folgende:

Von den ernsten Schatten jäh betäubt, seine Tritte auf dem Moos, die unvergleichlich kühlnassen Kissen, die intervallenden Brisen, Gesicht in Hüfthöhe der Sträucher, Kornelkirsche und Bergahorn, Rauschen des Sonnenlichts in leuchtend springenden Bächen am Saum der Wiesen entlang. Die Konzentration zwischen dem Schritt, da ist des Lebens Ursprung, erster Sprung über klüftende Gründe, hinunter fällt die Spreu ins wirbelnde Schwarz des Vergessens, Grube getummelter Zeit, am zimmetfuchsigen Schnitzling vorbei, die Frohnatur kaum gewandet, gehört hier her, zur abgeschabten Wolle der Füchse.
Die Mädchen frühreife sonnenpolierte Nymphen, ein sanfter Splitter im Granit, der den Härtegrad verdirbt. Durch ihr rätselhaftes Fangen wetteifern sie mit den Blumen der Lüfte, sie fassen sich an den luftdurchfluteten Blütenkleidern, klirrendes Lachen, die Zeit vergeht, heute sind sie jedermännisch, ihres frühen Geheimnisses beraubt. Doch damals, im Sonnenstrahlen, konnte man ihre lunare Stimmung erhaschen, jede von ihnen eine potentielle Jägerin der Nacht, vor Mitternacht zu Bett getragen, um im Traum zu verpuppen.

Gestern Nacht noch eine Kleinigkeit am „Cornelius“

Der Paracelsus-Gnom, der auf der hohlen Hand sich sogleich reckt, fragt nach Aufträgen, Abenteuern, will die ganze Palette der Befehle absolut und sofort ausführen, hüpfelt in der Lebenslinie herum und gehört eindeutig dem laudandus. „Kann ich denn mit dem Garnaufspindeln beginnen, dem Tagwerk – oder soll ich andere grubgräberische Ideen hecken, wie etwa die Milch versäuern, damit sie flocke, das Salz mit Zucker tauschen – alles noch bevor dem Frühstück, damit wir in einen recht munteren Tag stürzen und aus den Verwicklungen die Zukunft lesen können. Die deut‘ ich weiser als das lautere Weiß noch vor dem Mittagsschmaus heraus. Gebrochen Bein bringt Sonnenschein an einem Tag, da Ihr’s Euch wünscht.“
Cornelius betrachtete das Treiben auf seiner Handfläche, nicht wenig verblüfft darüber, was so ein wenig Brausepulver und Spucke hergab.

Wir und das Überprüfen der Realität

Letzten Montag befand ich mich mit Markus Hediger, der als letzter zu unserem mysteriösen Team stieß, in Zürich. Wir trafen dort unseren Makler der Terra Mallorca, der dort zusammen mit seiner Frau abgestiegen war, um sich eigentlich mit Robert zusammenzusetzen. Zwei Schriftsteller – einer davon noch vor gar nicht all zu langer Zeit seine Nemesis in Brasilien erlebend – in einem Schaustück der Konversation, während sich der Hauptprotagonist zuhause unerkannt in einer lebensbedrohlichen Situation befand. (Tatsächlich war Roberts Selbstdiagnose die Influenza , und während ich noch Haus und Hof in Wallung brachte, damit man sich um ihn kümmerte, während ich es nicht konnte, ließ er erst am Dienstag den Arzt zu sich, der ihm lakonisch den wirklichen Befund mitteilte. Bedenkt man, daß ihm wahrscheinlich nur das eingenommene Azetylsalizyl das Leben gerettet hatte, während Markus und ich Träume weckten, die nicht auf Papier standen, bekommt das Drama all unseres Strebens eine zusätzliche Dimension.)
Daß ich an dieser Stelle oberflächlich bleibe, hat seine Gründe. Geschaffene Tiefenstrukturen sind in Bewegung, freigesetzte Energien haben internationale Dimensionen angenommen, und wir selbst die Verantwortung nicht mehr allein für uns. Wie fühlt sich eine Sonne, wenn ihr die Planeten zustreben, wenn sie weiß, daß sie der Mittelpunkt ihres eigenen Systems zu sein hat? Wie einen Prozess beschreiben, der zwar im Unterbewußten bereits ausgestaltet ist, da ja dort kein Unterschied zwischen den drei Qualitäten der Zeit herrscht, der aber noch zur Wirkung gebracht werden muß, um ihn darlegen zu können. Der Schlüssel hierfür ist ein Lebensziel. Mich selbst hat 2009 den Schlaf gekostet. Ich betrachte ein Universum, das ich selbst bin – ein beschleunigter Spiegel zyklischer Wiederholungen mit graduellen Abweichungen, um eine Spirale ergeben zu können.
Robert und ich, wir tauften unser Unternehmen das Alles-auf-eine-Karte-Projekt. Denn nachdem wir sie ausgespielt hatten, konnten wir den Einsatz nicht mehr zurück nehmen, der unser Leben war.

Kopernikanische Wende

Die Kopernikanische Wende (anders ausgedrückt Der Quantensprung), die ich mit Robert Hauri seit etwa fünf Monaten einzuleiten im Begriff bin, fordert durchaus ihr Tribut, das, besehe ich es mir recht, durchaus in Relation des zu erwartenden Erfolgs steht. Das Ziel des „anders Denken“ hat uns beide vergessen gemacht, daß wir in dieser Welt den Körper nicht auf ebengleiche Geschwindigkeit setzen können wie den Geist. Das zahlte sich aus mit einem Herzinfarkt bei gleichzeitiger Lungenentzündung auf Seiten Roberts – und der wohl schlimmsten Grippeerkrankung, die ich je hatte, auf meiner Seite. Nichts desto Trotz erholt er sich von diesem Schlag der Titanenfaust wesentlich schneller als ich mich von meinem „Schnupfen“, und sitzt bereits wieder hoch erhoben im Krankenbett mit vorgeschnalltem Headset. Daß wir uns vor dieser „Stunde Null“ das (im Moment zu modifizierende) Unternehmen HMP philosophisch-ontologisch zurechtredeten, bewahrte uns in diesem Falle nicht vor Schaden. Das findet sein Gleichnis im Wort Durst, das von Dörren abstammt. Robert dörrte viele Jahre lang auf der obligatorischen Couch, um sich tage- und nächtelang durch tausende von Hörbüchern zu wühlen. Ohne Zweifel spielte da nicht nur das literarische Interesse eine Rolle, sondern das Substitut und das Extrakt „Leben der anderen“, nachdem er selbst nicht weniger als Tollkühn gelebt hatte, was er in seinem Buch „Der Bankrotteur“ , das heute in gewissen Kreisen seine Runde macht, mit weniger Hang zur Fiktion als zum Dokument, als Lehrstück aufzeigt. Assoziationen zu meinem „Hahn auf dem Mist“ werden wach. Doch während ich in meinem Machwerk die Welt als Bühne betrete und sie meiner Erotomanie Untertan mache, wildert Robert im Bereich Das große Geld. Schlitzohrig und offen zeigt er – und ist hierbei unfreiwillig aktuell – wie gespielt, geschachert und rochiert wird.
Ich selbst verlor meinen Saft beim schmoren. Nichts hatte ich ungetan gelassen, dem Erfolg auszuweichen, um nachher den Mißerfolg zu beklagen. Gegen jedes Berg-auf-Gebläse setzte ich die Zange meines Idealismus an. Das war in den 90igern so, als ich die Theatergruppe Antonin Artaud verließ, und das war auch so, als mich der Spiegel zum Interview bat. Mir war die Welt eine Welt der Gegenleistung ohne Abstraktum. Ich wurde von Frauen erzogen, wenn man das so nennen möchte, und gab diesen überaus lebendigen Blumen den Auftrag, mich, den Dichter durchs Leben zu barken. Als Gegenleistung durften sie sich an meiner Tiefe und sexuellen Praktiken laben. Beinahe zu spät bemerkte ich, daß diese Philosophie eine Philosophie der Jugend ist.
Was aber geschieht, wenn das Leben eines Tages die Spielchips einfordert?

Hoffmanns Goldener Topf

Es wird Zeit, in aller Kürze dennoch, jene Geschichte anzusprechen, die ich neben einigen Poe-Texten wohl bis an mein Lebensende immer wieder lesen werde. Es ist, das vermag ich wohl zu sagen, die schönste Geschichte die ich für mich jemals entdeckte, und die mich seit früher Kindheit an begeistert und wieder und wieder diese ganz spezielle Sehnsucht in mir anfacht. Gemeint ist E.T.A Hoffmanns Goldener Topf. Von einer Lieblingsgeschichte zu sprechen klänge mir zu banal – da gibt es aberviele, die ich ebenfalls heranziehen wollte – aber die Besonderheit, die dem Goldenen Topf innewohnt, möchte ich nicht unerwähnt lassen.
Freilich kennt man die Erzählung ohnedies als eines der schönsten Prosastücke deutscher Literatur, und sie ist ja auch über alle Maßen berühmt, berühmter sogar als die Prinzessin Brambilla, bei der es heißt:

Nichts ist langweiliger, als, festgewurzelt in den Boden, jedem Blick, jedem Wort Rede stehen zu müssen!

Die Kapitel sind hier mit Vigilien überschrieben. Hoffmann tat dies in direkter Anlehnung an die Nachtwachen des Bonaventura und das Konzept wird zunächst nicht ganz klar, weiß man nichts von einem Spannungsfeld der romantischen Sprache zwischen Mystik, Poesie und Wissenschaft.
Der Goldene Topf ist jedoch einer derjenigen romantischen Prosatexte, der sich einer versteckten alchimistischen Symbolik am weitgehendsten bedient. Selbstverständlich kommt dabei ein projektiver bzw. animistischer Grundzug der Alchemie (mit ihrem Angebot an psychologisch beziehbaren Bildern) dem allegorischen Interesse romantischer Poesie auf halbem Wege entgegen. Ähnlich verhält es sich mit den bildkräftigen Mythen schlechthin, sowie den Märchen überhaupt, als Sprache des Unterbewußten.
Beide – die Alchemie wie auch die Poesie – experimentieren mit einem Wechsel des Aggregatszustandes; die Poesie allerdings mit einem für die romantische Poetik typischen ironischen Bruch.
Wenn Anselmus zum Beispiel daran geht für den Archivarius Lindhorst einige arabische und koptische Manuskripte zu kopieren und dabei mit folgenden Worten gewarnt wird:

Sie werden künftig hier arbeiten, aber ich muß Ihnen die größte Vorsicht und Aufmerksamkeit empfehlen; ein falscher Strich, oder was der Himmel verhüten möge, ein Tintenfleck auf das Original gespritzt stürzt Sie ins Unglück.

– dann ist dies eigentlich erst vor dem Hintergrund einer kabbalistischen Einschätzung von der Schrift als welterzeugenden, und im Falle einer fehlerhaften Abschrift, weltvernichtenden Energie eben dieser Schrift zu verstehen. Hier konzentriert sich Hoffmann eindeutig auf die in der Romantik diskutierte Schriftspekulation, nämlich: die literarische Schrift als imaginatives Medium, das kraft einer ästhetischen Magie neue phantastische Welten erschafft. Daß der Schrift dabei neben der weltschöpferischen ebenfalls eine erotische Qualität beikommt, merkt man nicht gerade wenigen romantischen Texten an, oftmals – nun weg von der dennoch auch immer allgegenwärtigen Alchemie – psychologisch verspiegelt. Eines der herausragenden Beispiele erotischer Sublimation findet sich in Novalis‘ Heinrich von Ofterdingen, nämlich in der Szene, wo er die Blaue Blume schaut, und hinter der sich ein Modellfall für den Psychoanalytiker offen verbirgt. In einem Traum steigt dieser in eine Felsschlucht über bemooste Steine hinan, gerät in eine unterirdische Höhle, deren Wände mit einer glänzenden Flüssigkeit überzogen sind und steigt dort entkleidet in ein Becken:
Jede Welle des lieblichen Elements schmiegte sich wie ein zarter Busen an ihn. Die Flut schien eine Auflösung reizender Mädchen, die an dem Jüngling sich augenblicklich verkörperten, und eine himmlische Empfindung überströmte sein Innres.
Danach fällt er in eine Art von süßem Schlummer, und hier erscheint ihm nun in einem Traum eine hohe lichtblaue Blume.

E.T.A. Hoffmann spielt in seinem Goldenen Topf die Erotik ganz anders aus, aber auch er verlagert freilich das Elysium in eine Traumwelt. Nicht wenig wird hier mit dem Feuer gespielt, dafür trägt schon der Archivarius Lindhorst Sorge.
Anselmus, der am Anfang recht trübsinnig ob seines Ungeschicks den lieblichen und verwirrenden Gesang der grünleuchtenden goldenen Schlänglein unter einem Holunderbusch vernimmt, dessen verwirrende Worte in ihm ein glühendes Verlangen setzen, bekommt am Ende seine Serpentina und verschwindet nach Atlantis. Der Kniff, den Hoffmann hier anwendet, vollzieht er oft: er mischt sich nämlich einfach in die Geschichte ein und steht plötzlich als der Erzähler selbst im Märchen, traurig und matt. Es will ihm diesmal nicht gelingen, seinem Protagonisten hinterherzuschreiben in diese andere Welt. Ernüchterung ist eingekehrt nach dieser bezaubernden Erzählung. Doch Lindhorst alias Salamander läßt ihn nicht im Stich und erscheint mit einem schönen goldenen Pokal.

„Hier“, sprach er […] es ist angezündeter Arrak… Nippen Sie was weniges davon.

Das läßt sich der Erzähler nicht zweimal sagen. So erlauben die Künste des Salamanders einen Blick hinüber. Das kann nichts anderes bedeuten, wie: Das Paradies ist nebenan.

Am Ewigen Rauschen

Und dann, wenn der Dichter aus seinem Dorfe wandert, bringt er jedem, der ihm begegnet, ein Stückchen Herz mit und er muß weit reisen, eh‘ er endlich damit auf den Straßen und Gassen das ganze Herz ausgegeben hat.

– Jean Paul Richter

Ich lernte als erstes die Wälder wahrzunehmen, ihr sanftes Stachelgrün, den Pyramidenbau ihrer Bewohner, das Mittelgebirge als Landschaft, die mir entsprach.
Das Klettern erlernte ich an den Felstrauben zwischen hoch aufragenden Tannen und auch an den kernigen Brüdern selbst, die aus dem Nadelstreu ragen und in einem immergrünen dichten Kronendach münden, dort Gespräche beginnen und ewig weiterspinnen.
Ich lag in den korrosiven Mulden und kostete Moos und Schlamm, verdarb mir an Blumen den Magen. Der Tau war ich, ich wurde Honig und Harz, die Nacht über den Flüssen und Seen. Wie die Wipfel singen wollte ich und sang bevor ich sprach, und als ich dann sprach, wollte ich von dem berichten, was ich in den Kelchen der Gladiolen fand, den Schnurrbärten der Gräser. Ich verabredete mich mit Skarabäen und der gefürchteten Waldameise zum Spiel.
Dort, am Ewigen Rauschen wusch ich mir die Füße und vergrub einen Schatz. Die Stufen der Kößeine hinauf war ich Ritter, der Blick vom Turm war ich Bussard. Mir gehörte die Schönheit des Hufeisenlandes, der Sechsämter, König der Hirsche.
In den hohen Gräsern der Rehauen ästen die goldenen Tiere und liebten sich für mich. Die Rehe des Fichtelgebirges besiegen die Tiger der Tropen.

(Das Fichtelgebirge ist der Mittelpunkt Europas mit den zentralen Gebirgsknoten der mitteleuropäischen Grundgebirge, und auch europäische Wasserscheide mit ihren in vier Himmelsrichtungen sprießenden Quellen Eger, Naab, Main und Saale.
Tatsächlich besteht diese mystische und märchenhafteste aller deutschen Landschaften hauptsächlich aus Buchen- und Tannenwäldern. Die namensgebenden Fichten sind hochmontan erst über 1000 mün zu finden.)